Immer mehr Schüler klagen in Zeiten von G8 und Ganztagsschule über Stress und Überforderung. Aber wie war es früher? Verena Wolff erinnert sich an eine Schulzeit in den 00er-Jahren mit Wikipedia, YouTube und Facebook.

Wie jedes Kind konnte auch ich es kaum abwarten, in die Schule zu kommen, um Lesen und Schreiben zu lernen – weil ich nicht wusste, wie schnell diese Freude wieder verebbt. Mit pinkfarbener Pferdeschultüte und dazu passendem Ranzen auf dem Rücken begann mein wilder Ritt durch 13 Jahre Schulzeit. Es war ein Parcours, gespickt mit Hindernissen und Wassergräben – doch ich kam ohne zu stürzen ins Ziel.

In der Grundschulzeit konnte man noch Kind sein, der Unterricht endete um 13 Uhr. So blieb nachmittags genügend Zeit, um sich zum Spielen zu verabreden. Von Dingen, die um uns herum passierten, bekamen wir meistens nicht viel mit, oder wir konnten sie noch gar nicht begreifen. Bis zum 11. September 2001, dem Tag der Anschläge auf das World Trade Center in New York. Ich erinnere mich, dass bei uns zu Hause den ganzen Tag lang der Fernseher lief und auf jedem Kanal die schrecklichen Bilder gezeigt wurden. Die Szenen machten mich traurig, auch wenn ich nicht alle Zusammenhänge verstehen konnte – ich war erst in der zweiten Klasse. Die Vorteile des Euros waren mir damals erst recht schleierhaft. Stutzig machte mich vor allem der Kontoauszug meines Sparbuchs. Warum war plötzlich von meinem gesparten Geld nur noch halb so viel drauf? Auch die „Agenda 2010“ von Kanzler Gerhard Schröder nahm ich kaum wahr.

Seltsam waren die Methoden mancher Lehrer, wenn sie versuchten, uns etwas beizubringen. Ich erinnere mich zum Beispiel an Stunden, in denen uns gezielt die Inhalte des nächsten Diktats eingetrichtert wurden. Zuerst kam das „Partnerdiktat“: Dabei diktierte der Sitznachbar den Text. Exotischer waren die Varianten „Laufdiktat“ und „Dosendiktat“: Entweder lief man quer durch die Klasse, las den Text und merkte sich die Zeile, die man niederschreiben wollte. Oder man warf den Schnipsel mit dem Text, den man notieren wollte, in eine Dose und versuchte, sich dann aus der Erinnerung selbst etwas zu diktieren – manchmal war es natürlich bequemer, erst den Text vom Schnipsel abzuschreiben und ihn dann in die Dose zu stecken.

Im Mathematikunterricht übten wir mit „Lernschnecken“ und büffelten das kleine Einmaleins, indem wir beim Eckenrechnen den Klassenmeister suchten. Was bis zur 7. Klasse spielend begann, endete abrupt. Ich bekam eine neue Mathelehrerin – und die entpuppte sich als ein wahres Geschenk. Ohne ihren Unterricht, der für mich der beste in meiner Schulzeit war, hätte ich wohl kaum mein Abitur geschafft. Sie war sehr streng, aber stets um das Wohl ihrer Schüler bemüht. Ihr russischer Akzent machte es ihr schwer, Wörter wie „Pythagoras“ oder „irrationale Zahlen“ auszusprechen. Für uns Schüler hieß es deshalb der Satz des „Pitagura“ und die „anderen Zahlen“. Mit ihrer sogenannten täglichen Übung, die aus zehn Kopfrechenaufgaben bestand, quälte sie uns jede Stunde. Nach drei täglichen Übungen wurde das Heft eingesammelt und bewertet. Den Taschenrechner durften wir nur selten benutzen.

Mit den Schuljahren änderten sich die Zeiten, es wurde alles irgendwie ernster. Wir verstanden jetzt, was Klimaerwärmung und Euro-Krise bedeuten, surften mit anderen Augen durchs Internet. Ein Deutscher war nun Papst, die Fußball-WM wurde zum Sommermärchen, Barack Obama hämmerte uns mit seinem „Yes, we can!“ ein, man könne alles erreichen, wenn man nur wollte. Und auch fürs Überleben in der Schule gab es einen guten Tipp – vom neuen Biologielehrer: „Du musst nicht besonders intelligent sein, du musst nur wissen, wie du an Informationen kommst!“ Er behielt recht, und so überlebte ich schließlich sogar den Abiturstress.

Um dahin zu kommen, ging es nach der Zehnten in die Profiloberstufe. Dort musste jeder ein sogenanntes Profilfach wählen, das dann vier Stunden wöchentlich unterrichtet wurde. Es bildete den Schwerpunkt, sodass sich die Unterrichtsinhalte der anderen Fächer daran orientierten. An meiner Schule gab es drei Möglichkeiten. Nummer eins war das naturwissenschaftliche Profil. Wer sich vor allem mit Physik, Chemie und Biologie beschäftigen wollte – und da gab es tatsächlich welche –, der fühlte sich in diesem Profil ganz wunderbar aufgehoben. Eine Fächerkombination für Nerds und Genies, aber nicht für mich. Bei der zweiten Möglichkeit handelte es sich um das Sportprofil. Für Schüler, die in ihrer Freizeit ein wenig kickten oder glaubten, sie könnten mit Yoga eine olympische Medaille gewinnen. Zwei Stunden mehr Sportunterricht als die anderen Klassen und ein wenig Sporttheorie lockten viele an, die unter anderen Umständen sonst nicht in den Erfolgskader der Abiturienten aufgenommen worden wären. Doch auch das war nicht mein Fall. Ich wählte das dritte Profil mit Wirtschaft und Politik, kurz WiPo. Es erschien mir als das kleinste Übel.

Vom Prinzip her hatte die Profiloberstufe einen entscheidenden Vorteil: Man musste in keinem Fach besonders gut sein, um sein Abitur zu schaffen. Eine mittelmäßige Leistung in allen Fächern reichte durchaus. Der Nachteil bestand natürlich darin, dass man kein Fach abwählen konnte – Mathe oder Geschichte mussten bis zum Abitur besucht werden. Mitmachen war nicht unbedingt notwendig. Für pure Anwesenheit gab es meistens schon einen Punkt. Die Bewertungen wurden breiter gefächert. Aus dem anfänglichen Notensystem „Eins bis Sechs“ wurde ein „15 bis Null“, wobei die 15 eine Eins plus und null Punkte eine Sechs bedeutet. Die bloße Anwesenheit reichte also für eine Fünf minus aus und sicherte damit meistens schon die Versetzung. Siebenmal durfte die Fünf in gewerteten Zeugnisnoten in der Oberstufenzeit auftauchen, ohne dass das Abitur in Gefahr war!

Die Lehrer teilten sich in zwei Gattungen auf. Gattung eins war der Pädagoge der alten Schule. Er verachtete die „neue“ Technik, stattdessen wälzte man in seinem Unterricht verstaubte Bücher und las sich durch noch ältere Quellen in altdeutscher Schrift. Er war streng und duldete keinerlei Störung. Niemand dachte auch nur daran, die Hausaufgaben zu vergessen oder den Unterricht zu schwänzen. Typ zwei war wesentlich entspannter. Sein Unterrichtsmaterial befand sich auf mobilen Endgeräten, und ohne Ärger zu bekommen, schrieben wir SMS im Unterricht. Man ging eben mit dem Trend.

Das Handy wurde schnell der wichtigste Begleiter in der Schule. Erste Smartphones erleichterten den Alltag, Wikipedia erledigte nun die Hausaufgaben. Für jedes Gedicht gab es schon eine fertige Interpretation im Netz. Wir mussten aber vorsichtig sein. Zum einen war Googeln in Klassenarbeiten natürlich nicht erlaubt, man musste also fähig sein, auch ohne Hilfe eine anständige Interpretation zustande zu bringen.

Besser war es zudem, das recherchierte Material geschickt umzuformulieren und mit eigenen Inhalten zu verknüpfen, um nicht sofort als Plagiator aufzufallen. Was nicht immer gelang. Ich erinnere mich an ein kleines Drama im Biologieunterricht. Meine Hausaufgabe war es, „die ökologische Nische eines Tieres“ zu beschreiben. Und meine Mitschüler sollten erraten, um welches Tier es sich handelt. Im Internet fand ich eine besonders detailreiche Ausführung des Themas am Beispiel der Bachforelle. Es war schon spät, im Fernsehen gewann unsere Lena gerade den Eurovision Song Contest. Also: copy, paste und fertig. Meiner Situation wohl bewusst, vermied ich es tunlichst, meine Hausaufgabe vor der Klasse zu präsentieren. Doch meine Lehrerin hatte das Gespür des Pädagogen – ich musste vorlesen. Zögernd stellte ich „mein“ Ergebnis vor. Als ich fertig war, herrschte Stille. Wer weiß auch schon, welcher Fisch, dessen Leibspeise Schnecken und Würmer sind und der unter der Flussperlmuschel als häufigem Parasiten leidet, oligotrophes Wasser und Kiesgrund benötigt? Niemand.

Eine zaghafte Hand meldete sich dennoch. Ein Junge aus meiner Klasse antwortete wie selbstverständlich, dass es sich hierbei nur um die Bachforelle handeln könne. Als ich kleinlaut mit „richtig“ antwortete, fragte mich meine Lehrerin, wie ich denn auf so ein spezielles Tier gekommen sei, wo doch meine Mitschüler Giraffen oder Elefanten beschrieben hatten. Ich murmelte, dass mich Fische interessierten und ich gerne angeln gehe.

Noch pikanter wurde die Situation allerdings für meinen Antwortengeber, der nun aufgefordert wurde, sein Beispiel vorzulesen. Er rettete sich mit den Worten, dass es sich bei seinem Tier ebenfalls um einen Fisch handele und es sicher noch ein besseres Beispiel in der Runde gebe. Kein Wunder, auch er hatte die Forelle gegoogelt!

Mit den lockeren Lehrern hatten wir den meisten Spaß, nicht selten trafen wir sie in Diskotheken oder auf dem Kiez, sie waren aber nicht immer die kompetentesten. Weil wir im Unterricht selten etwas mitschrieben, brach die Panik dann vor den Klassenarbeiten aus. Wer in Mathe, Geschichte oder Biologie etwas nicht verstand, gab seine Frage einfach bei YouTube ein. So konnte man sich auch noch in der Nacht vor der Klausur per Internetvideo die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung erklären lassen.

Doch die digitale Welt war noch größer. Klebte man früher noch mit der Nase an der Scheibe, wo der Vertretungsplan hing, ließ er sich nun online abrufen. Hausaufgabenhefte gab es kaum noch. Was zu tun war, wurde bei Facebook in die interne Klassengruppe gestellt, genauso wie die Vertretungsaufgaben von den Lehrern, die krank waren. Tafelbilder wurden nicht mehr mühsam abgeschrieben. Einmal abfotografiert, konnte sie jeder nutzen. Die schweren Bücher blieben in der Schule, man machte einfach ein Bild von der benötigten Seite.

Unterrichtsschluss um die Mittagszeit blieb ein selten erfüllter Traum. Ich war auf einer Ganztagsschule. Wöchentlich hatten wir 34 Unterrichtsstunden. Mehrmals saßen wir bis 16 Uhr im Klassenzimmer. In den Mittagspausen in der Mensa lernte man Mamas Mittagessen zu schätzen. Klausuren mussten trotzdem geschrieben, Klausurersatzleistungen gemacht und Vorträge gehalten werden. PowerPoint-Präsentationen gehörten ab der neunten Klasse zum Pflichtprogramm, auch den einen oder anderen Kurzfilm haben wir gedreht. Unser Lehrplan war jedoch nicht neumodisch. Wir verstanden Kants Kategorischen Imperativ oder versuchten es wenigstens und quälten uns durch den Verlauf der Französischen Revolution. Im Deutschunterricht wurden die Klassiker gelesen, „Die Leiden des jungen Werther“, „Der Prozess“ und „Die Ratten“, obwohl „Harry Potter“ auch nicht schlecht gewesen wäre.

Anfang der elften Klasse begaben wir uns, wie der kleine Hobbit, auf eine unerwartete Reise. Zwischen Tiefschlägen und Höhenflügen reiften wir, bewegten uns immer sicherer in der sich viel zu schnell verändernden Welt. Wir trotzten Ehec und H5N1, teilten unser Mitgefühl mit den Opfern von Hurrikan „Sandy“. Zwischen „Harlem Shake“ und „Gangnam Style“ befand ich mich endlich auf dem Weg Richtung Abitur. Auch diese Hürde war am Ende nicht zu hoch.