Zurzeit können Ärzte aus 30 Medikamenten wählen. Doch Experten fürchten, dass der Nachschub an Präparaten ins Stocken gerät.

Berlin/Hannover. In den vergangenen 15 Jahren hat der Aids-Erreger HIV viel von seinem Schrecken verloren. Einst kam eine Ansteckung mit dem Humanen Immundefizienz-Virus (HIV) einem Todesurteil gleich. Dank der Therapie, die sich gegen das Retrovirus richtet, wurde daraus eine chronische Infektion. Inzwischen gibt es eine Vielzahl spezieller Medikamente. Doch der Nachschub droht ins Stocken zu geraten – nicht zuletzt wegen der großen Konkurrenz durch bewährte Arzneien, bemängeln Experten.

Noch zeigen sich solche Probleme nicht. „Die Entwicklung auf dem Medikamentenmarkt ist gut“, sagt Prof. Norbert Brockmeyer vom Uniklinikum Bochum, Sprecher des Deutschen Kompetenznetzes HIV/Aids. „Unser Portfolio an Medikamenten wird größer und breiter. Das ist wichtig für den Fall, dass Viren resistent werden oder Patienten ein Präparat nicht mehr vertragen.”

Im vergangenen Jahr kam laut Brockmeyer ein wichtiges Mittel auf den europäischen Markt: Im Mai ließ die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) das Kombipräparat Stribild zu, das Patienten nur noch einmal täglich nehmen müssen. Die Arznei ist zwar nicht das erste Kombimittel dieser Art, bietet aber Stoffe anderer Wirkstoffklassen. Und mit Elvitegravir enthält Stribild – neben weiteren Substanzen – den bislang zweiten Wirkstoff aus der Klasse der Integrase-Inhibitoren. Diese Wirkstoffe hemmen das Enzym Integrase, mit dem das HI-Virus sein Erbgut in die DNA der Wirtszelle einbaut.

Erst vor wenigen Tagen ließ die EMA Elvitegravir auch als Einzelsubstanz zu. Ein weiterer Integrasehemmer – Dolutegravir – erhielt in den USA die Zulassung und könnte im kommenden Jahr auch auf den europäischen Markt kommen.

Der Immunologe Prof. Georg Behrens von der Medizinischen Hochschule Hannover schätzt die Zahl der antiretroviralen Medikamente inzwischen auf knapp 30. „Das bietet uns theoretisch zwar eine fast unendliche Zahl von Kombinationsmöglichkeiten”, sagt der Präsident der Deutschen Aids-Gesellschaft. „Aber hauptsächlich verwenden wir nur etwa ein Dutzend Medikamente, die anderen haben zu viele Nebenwirkungen. Und von diesen zehn bis zwölf Mitteln nutzen wir nur bestimmte Kombinationen.“

Um diese Einschränkung zu verstehen, hilft ein kurzer Blick auf die antiretrovirale Therapie. Dabei nehmen Patienten meist drei Medikamente aus zwei Wirkstoffklassen ein. Diese sollen die Vermehrung der Viren an unterschiedlichen Punkten unterbinden. So sollen etwa die CCR5-Hemmer den Eintritt des Virus in die Wirtszelle verhindern. Eine weitere Klasse (NRTI) sorgt dafür, dass das Virus seine Erbsubstanz RNA nicht in DNA umschreiben kann. Andere Mittel hemmen ein Enzym, das die umgeschriebene DNA in den DNA-Gesamtstrang einbaut. Und Proteasehemmer sollen es dem Virus erschweren, die in der Zelle neu gebildeten Proteinfragmente wieder richtig zusammenzusetzen.

Zurzeit besteht die antiretrovirale Therapie aus dem Mix von zwei NRTI-Präparaten und der zusätzlichen Gabe eines Mittels aus einer anderen Wirkstoffklasse, etwa eines Proteasehemmers. Somit erweitert jedes neue Mittel die Bandbreite der Gesamttherapie. Davon profitieren nicht nur verschiedene Patientengruppen. Oft muss auch ein einzelner Infizierter während der lebenslangen Therapie die Medikamente umstellen – etwa weil er das alte Schema nicht mehr verträgt.

„Die HIV-Therapie konsolidiert sich weiter”, sagt Behrens. „Sie wird effektiver und besser verträglich.” Inwieweit das für neue Präparate gilt, sei aber noch unklar. So habe Elvitegravir zwar in den Zulassungsstudien sehr gute Resultate erzielt: Die Substanz war gut wirksam und sehr gut verträglich. Aber wie gut sie in der realen Praxis hilft, muss sich im Lauf der kommenden Jahre erst noch zeigen. „Auf dem Papier sehen die Resultate vielversprechend aus“, sagt Behrens. „Aber wir kennen nur die Daten aus den klinischen Studien, und die stammen von Patienten, die eher leicht zu behandeln waren. Im Alltag müssen sich diese Mittel erst noch bewähren, auch bei anderen Patienten. Nur dann können sie sich etablieren.“

Der Erfolg der älteren, bewährten Mittel treibt die Ansprüche für die neuen Präparate nach oben. Inzwischen beurteilten Ärzte neue Medikamente wesentlich kritischer als noch vor zehn oder 15 Jahren, sagt Behrens.

Das erschwert den Herstellern die langfristige Planung. Denn nach der jahrelangen Entwicklung von Wirkstoffen und den langwierigen, teuren Zulassungsstudien würde ein Scheitern auf dem Markt ein finanzielles Desaster bedeuten. Dies gilt umso mehr, als in den kommenden Jahren Patente auf viele ältere Medikamente auslaufen. Diese Mittel dürften danach als Generika auf den Markt kommen – also deutlich günstiger werden. Eine Folge: In der HIV-Forschung gebe es inzwischen weniger Firmen als noch vor einigen Jahren, sagt Behrens. Die Zahl der neu entwickelten Medikamente sinke.

„Die Pipeline wird dünner, zurzeit ist nicht viel Neues in Vorbereitung“, sagt Behrens. „Für die nächsten fünf Jahre sehe ich kein neuartiges Medikament.“ Auf Dauer könne sich die Medizin einen solchen Stillstand kaum leisten, betont der Experte. Denn für Ärzte geht es nicht allein um die Frage, ob ein Medikament besser ist als ein anderes. Wichtig sei auch, eine breite Palette zur Auswahl zu haben, um bei Problemen auf andere Produkte ausweichen zu können.

Das gilt vor allem auch für Resistenzen. „Wir dürfen nicht enden wie bei der Tuberkulose“, mahnt Behrens. „Da hat man irgendwann aufgehört, neue Medikamente zu entwickeln. Diesen Fehler dürfen wir nicht noch einmal machen, denn wir werden auch in 100 Jahren noch Menschen mit HIV behandeln.”

Die Therapie hilft nicht nur HIV-Infizierten, ein weitgehend normales Leben zu führen, sie schützt auch Sexualpartner vor Ansteckung. Der Königsweg gegen Neuinfektionen wäre aber nach wie vor eine Impfung. „Die Kontrolle der HIV-Epidemie wird letztlich höchstwahrscheinlich nur mit der Entwicklung einer sichereren und wirksamen Vakzine gelingen“, schrieben im Oktober US-Forscher von der Columbia University in New York im „New England Journal of Medicine“.

Ihre Studie mit einem Impfstoff war kurz zuvor gescheitert. Das Aufsichtsgremium stoppte den Versuch vorzeitig im April, denn in der geimpften Gruppe hatten sich mehr Menschen mit HIV infiziert als in der Kontrollgruppe, die nur ein Scheinmedikament bekam. Das zeigte erneut, wie schwierig die Suche nach einem HIV-Impfstoff ist. Von insgesamt sechs Versuchen, die die Wirksamkeit einer Vakzine testeten, scheiterten fünf. Die sechste Studie in Thailand senkte zwar das Risiko – allerdings nur um etwa 30 Prozent.

Trotz dieser Probleme blickt das HIV-Programm der Vereinten Nationen (UNAIDS) relativ optimistisch in die Zukunft. Zwar infizierten sich 2012 schätzungsweise noch 2,3 Millionen Menschen mit HIV – aber ein Drittel weniger als 2001. Und die Zahl der Aids-bedingten Todesfälle sank seit dem Höchststand 2005 um etwa 30 Prozent auf 1,6 Millionen. Zu verdanken ist dies einem besseren Zugang der weltweit gut 35 Millionen Infizierten zu wirksamen Medikamenten. Ende 2012 waren knapp zehn Millionen Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern in Therapie – eine Steigerung von 20 Prozent in nur einem Jahr. Angesichts dessen könne man das Ziel, 15 Millionen Menschen bis zum Jahr 2015 zu behandeln, sogar übertreffen, sagt UNAIDS-Direktor Michel Sidibé.

Für Behrens liegt der Schlüssel zum Erfolg in einer langfristigen Strategie. „Die Zahl der Menschen in Therapie ist stark gestiegen. Das ist ein Paket, das verpflichtet”, sagt er. „Die Finanzierung muss aufrechterhalten werden. Dazu gehören nicht nur Tabletten, sondern auch Logistik, etwa bei der Betreuung der Patienten. Wenn das irgendwann nicht mehr funktioniert, nehmen die Infektionszahlen wieder zu.“