Die Entdeckerin des Virus, Françoise Barré-Sinoussi, sprach in Hamburg über die Fortschritte im Kampf gegen Aids – und ermahnte die Politik, sich stärker zu engagieren.

Hamburg. „Noch kann sich HIV ausbreiten. Das ist hochgradig pervers und traurig.“ Das sagt Jan van Lunzen, Ärztlicher Leiter der Infektiologie am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), der die Krankheit seit 1989 erforscht. „Es ist fast ein Wunder, welche Fortschritte die Therapie gemacht hat. Es handelt sich wohl um eine der erfolgreichsten Geschichten in der Medizin.“ Auch das sagt Jan van Lunzen.

Wie das zusammenpasst, zeigt ein Blick auf die Statistik. Der Weltgesundheitsorganisation zufolge sind in den vergangenen drei Jahrzehnten 25 Millionen Menschen infolge der Immunschwäche-Erkrankung Aids gestorben, die durch das HI-Virus ausgelöst wird. Ende 2011 waren weltweit 34 Millionen Menschen mit HIV infiziert – zwei Drittel davon in Schwarzafrika. Im gleichen Jahr steckten sich 2,5 Millionen Menschen neu mit dem Erreger an, 1, 7 Millionen starben an den Folgen von Aids, unter ihnen 230.000 Kinder. Und noch immer gibt es keine Impfung.

Wirksame Medikamente erhielten Ende 2012 zehn Millionen Betroffene – die meisten von ihnen leben allerdings in der westlichen Welt. Bei diesen Patienten reduziert sich die normale durchschnittliche Lebenserwartung durch die Infektion nur um zwei bis vier Jahre. Für diese Menschen bedeutet HIV meist kein Todesurteil mehr. Auf der Haben-Seite steht auch: Inzwischen gibt Hoffnung auf eine „funktionelle Heilung“. Damit meinen Mediziner, dass es dem Körper ohne Medikamente gelingt, das Virus zu kontrollieren und klein zu halten, wie es mit Medikamenten geschieht.

In diesem Spannungsfeld bewegt sich der Kampf gegen die Infektion heute, 30 Jahre nach der Entdeckung des Erregers. Damals gelang es Françoise Barré-Sinoussi und Luc Montagnier am Institut Pasteur in Paris, das HI-Virus aus dem Lymphknoten eines afrikanischen Patienten zu isolieren. Damit hatten die beiden Virologen den Auslöser jenes Leidens gefunden, das erstmals 1980 bei homosexuellen Männern in den USA dokumentiert worden war und – noch vor der Identifizierung des Virus – als Aids (Acquired Immune Deficiency Syndrome, erworbenes Immundefektsyndrom) bezeichnet wurde. Für ihre Arbeit erhielten die beiden Franzosen später den Nobelpreis.

Auf Einladung des Hamburger Heinrich-Pette-Instituts, an dem Wissenschaftler Viren wie HIV erforschen, war Françoise Barré-Sinoussi am Donnerstag zu Gast in der Hansestadt, um in einem Vortrag über die Entwicklung der HIV-Forschung und Heilungsansätze zu sprechen. Zuvor appellierte sie an die deutsche Politik, sich zusammen mit Frankreich international stärker zu engagieren und mehr Mittel für den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (GFATM) bereitzustellen. Andernfalls bestehe die Gefahr, hinter die erreichten Erfolge zurückzufallen.

Bis 1987 gab es keine Medikamente gegen HIV. Die Betroffenen erkrankten an Aids, sie litten an Hirn- und Lungenentzündungen, Hauttumoren, an Pilzenerkrankungen, die den ganzen Organismus betrafen. Am Ende starben sie den hilflosen Ärzten unter den Händen weg. „Wir konnten nur die Symptome behandeln, nicht die Ursache“, sagt Jan van Lunzen. „Das war eine sehr belastende, frustrierende Phase.“

Das erste sogenannte antiretrovirale Medikament namens AZT, das sich gegen die reverse Transkriptase richtete, ein Enzym, das das HI-Virus nutzt, weckte große Hoffnungen. Zwar reduzierte sich die Virusmenge kurzzeitig, doch nach einigen Monaten war der Erreger in alter Stärke wieder da. Den Durchbruch brachte erst die Kombination mehrerer Medikamente, die Ärzte ab Mitte der 1990er Jahre einsetzten.

Heute kombinieren Ärzte in der Regel drei Substanzen, die mindestens zwei verschiedene Wirkansätze haben. „So erwischen wir verschiedene Stellen des Lebenszyklus des Virus“, erläutert van Lunzen. Zwar ist die Therapie nicht immer frei von Nebenwirkungen: Bei einigen Patienten kommt es zu Schäden an Leber, Nieren oder Knochen. Dennoch sagt van Lunzen: „Wer frühzeitig angemessen behandelt wird, kann in der Regel ein relativ normales Leben führen. Diese Patienten sind zwar mit HIV-infiziert, sie bekommen aber kein Aids, und sie sterben nicht an der Infektion. Wir können heute auch Mütter, die infiziert sind, so gut behandeln, dass sie keine infizierten Kinder bekommen, und wir können einen mit HIV infizierten Menschen so behandeln, dass sein Sexualpartner geschützt ist.“

Von diesen Erfolgen profitierten bisher aber vor allem Betroffene in der westlichen Welt. Zwar erhalten inzwischen auch in Afrika viele Infizierte moderne Medikamente, doch nach Schätzungen werden immer noch rund 40 Prozent der HIV-Infizierten nicht optimal behandelt. Und mancherorts, etwa in Kamerun, gebe es Rückschritte, sagt Françoise Barré-Sinoussi. „Dort haben sie nicht mehr genug Geld, alle Patienten weiter optimal zu behandeln.“ Dies sei tragisch, sagt Jan van Lunzen, denn: „Die Eliminierung von HIV weltweit ist kein medizinisches Problem mehr. Wir haben alle Werkzeuge, diese Epidemie zu besiegen. Wenn wir alle Infizierten behandeln könnten, würden sie das Virus nicht weitergeben.“

Werde die Behandlung mancherorts gestoppt, könnten sich schnell Resistenzen gegen die Medikamente entwickeln, sagt Barré-Sinoussi. Die Folgen beträfen dann womöglich auch jene Länder in der westlichen Welt, in denen sich der Erreger nicht mehr ausbreite. „Wir leben schließlich in einer globalisierten Welt, in der das Virus relativ leicht zirkulieren kann.“

Sie habe vor Kurzem das Gespräch mit François Hollande gesucht, weil es hieß, Frankreichs Präsident wolle den Beitrag seines Landes zum Globalen Fonds reduzieren. Er habe dies verneint. Zudem sei es um das Engagement anderer europäischer Länder im Kampf gegen HIV gegangen. „Dabei haben wir zuerst Deutschland erwähnt“, so Barré-Sinoussi. Sie habe an Hollande appelliert, mit Angela Merkel zu besprechen, ob Deutschland seinen im Vergleich geringeren Beitrag nicht erhöhen könne.

Laut Bundesentwicklungsministerium (BMZ) stellt Deutschland dem Globalen Fonds zwischen 2012 und 2016 eine Milliarde Euro zur Verfügung. Damit ist die Bundesrepublik hinter den USA (mehr als 900 Mio. Euro in 2012) und Frankreich (mehr als 350 Mio. Euro ) drittgrößter Geldgeber. Eine genau Aufschlüsselung für HIV/Aids ist laut einer BMZ-Sprecherin aber nicht möglich, da viele Projekte gleich mehrere Ziele verfolgten, zum Beispiel die Aufklärung zur Müttergesundheit mit der Aids-Prävention verbänden.

Barré-Sinoussi geht Deutschlands Beitrag nicht weit genug. UKE-Forscher van Lunzen sagt: „Wir als reiches Land müssen mehr Verantwortung tragen.“ Das fordert auch die Organisation Ärzte ohne Grenzen: Bei der Wiederauffüllungskonferenz des Fonds Ende des Jahres müsse die Bundesregierung „endlich den notwendigen politischen Willen zeigen“ und den bisherigen Betrag von 200 Millionen pro Jahr auf mindestens 400 Millionen erhöhen, so Sprecher Philipp Frisch.

Bundesentwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP) sagt dazu: Deutschlands Beitrag von einer Milliarde Euro bis 2016 – fast ein Drittel der Ausgaben seines Ministeriums im Gesundheitsbereich – sei „eine Summe, die sich sehen lassen kann“. Und: „Dass der Fonds jetzt endlich wieder wirksam arbeiten kann, liegt auch daran, dass ich von deutscher Seite konsequent auf Reformen beim Fonds gedrängt habe.“

Die Mittel für den Fonds seien nicht der einzige Beitrag im Kampf gegen HIV und Aids, so Niebel. „In den letzten Jahren haben wir unsere Gelder für Gesundheit in Entwicklungsländern verdreifacht – auf rund 750 Millionen Euro pro Jahr. Auch hiervon fließt ein guter Teil in Projekte und Maßnahmen rund um die Immunschwächekrankheit.“

Eine lebenslange teure Therapie könnte vielleicht bald nicht mehr nötig sein. Hoffnung macht Forschern unter anderem der 2009 als „Berliner Patient“ bekannt gewordene Timothy Brown. Der HIV-Infizierte hatte wegen seiner Leukämieerkrankung an der Charité eine Knochenmarkstransplantation erhalten. Die Zellen waren aufgrund der genetischen Ausstattung des Spenders nicht mit HIV infizierbar. Weil durch die Bestrahlung und die Chemotherapie, die Brown bekam, alle Lymphozyten (in denen sich das HI-Virus einnistet) in seinem Körper zerstört worden waren, war er nach der Operation praktisch frei von dem Erreger.

Jeden HIV-Infizierten einer solchen Operation zu unterziehen, wäre allerdings unverantwortlich, da sie erhebliche Risiken birgt. „Die Hoffnung ist aber, dass wir durch diesen Fall mehr darüber lernen können, ob wir mit kleineren Eingriffen auch HIV-Infizierten helfen könnten, die keine bösartige Erkrankung haben“, sagt Jan van Lunzen.

Eher zu erreichen sei künftig wohl eine funktionelle Heilung, sagt Françoise Barré-Sinoussi. Es gebe Daten, die darauf hindeuteten, dass dies bei einigen Patienten in Frankreich, die in einer früheren Phase behandelt wurden als die meisten anderen Betroffenen, erreicht worden sei.

Die Nobelpreisträgerin appellierte an Forscher, in der Heilforschung und bei der Suche nach einem Impfstoff stärker zusammenzuarbeiten. In Hamburg geschehe dies bereits: Hier haben sich Grundlagenforscher vom HPI und Mediziner vom UKE enger vernetzt. Und beide Seiten haben Neuzugänge zu vermelden: Der Immunologe Marcus Altfeld wechselte jüngst von der Harvard Medical School ans HPI. Aus Harvard kommt auch Marylyn Addo, die das UKE verstärkt.