Drei Chemiker erhalten die Auszeichnung für die Simulation von Reaktionen mithilfe von Computermodellen. Das Simulieren im Computer vereinfacht und beschleunigt die Arbeit des Chemikers.

Stockholm. Chemie ist eine abstrakte Wissenschaft. Was auf der Ebene der Atome und Moleküle vor sich geht, ist kaum beobachtbar. Zu klein sind die Strukturen, zu schnell laufen die Teilprozesse einer chemischen Reaktion ab. Einzelne Teilschritte, etwa das Umlagern von Elektronen und Bindungen, dauern nur Bruchteile von Tausendstelsekunden. Andererseits existieren viele anziehende und abstoßende Kräfte zwischen den Atomen innerhalb eines Moleküls. Hier, auf der Ebene der Atome, Atomkerne und der sie umschwirrenden Elektronen herrscht nicht die klassische Physik, wie wir sie aus den Zeiten Newtons kennen, sondern die Quantenphysik mit ihren vollkommen anderen Gesetzen.

Wer die Vorgänge in der Welt der Chemie gut verstehen will, muss beides durchdringen: die klassische Physik und die Quantenphysik. Dass das funktioniert, ist das Verdienst der diesjährigen Nobelpreisträger für Chemie. Ihn erhalten die drei US-Forscher Martin Karplus, 83, Michael Levitt, 66, und Arieh Warshel, 73. Das teilte die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften mit. Die Auszeichnung ist mit acht Millionen schwedischen Kronen, umgerechnet 916.000 Euro, dotiert. Die Forscher schafften es, beide Welten im Computer zu vereinen und chemische Reaktionen zu modellieren. Die Chemie verlagerte sich durch ihre Arbeiten vom klassischen Chemielabor in leistungsfähige Rechner.

Wie ein großes Molekül aufgebaut ist, welche Form es hat und wie es mit anderen Substanzen reagiert, war lange Zeit kaum zu berechnen. Die klassische Chemie mit Reagenzglas und Chemie-Reaktor war deshalb lange eine Wissenschaft, die oft auf Versuch und Irrtum beruhte. Karplus, Levitt und Warshel jedoch haben in den 70er-Jahren damit begonnen, Kräfte und Wechselwirkungen, Strukturen und Formen mit Computermodellen zu simulieren. Durch diese Arbeiten können Chemiker heute viele Reaktionswege vorhersagen. Karplus begann Anfang der 70er-Jahre mit quantenphysikalischen Berechnungen einfachster chemischer Moleküle und entwickelte die nach ihm benannte „Karplus-Gleichung“. Warshel hatte etwa zeitgleich am Weizmann-Institut mithilfe des Großrechners „Golem“ von der „anderen Seite“ aus versucht, Molekülstrukturen zu berechnen, also mit den klassischen Gesetzen der Physik. Warshel ging schließlich zu Karplus’ Arbeitsgruppe nach Harvard.

Karplus interessierte sich zu dieser Zeit für das Molekül Retinal im Auge. Wenn Licht auf Retinal fällt, verändert sich dessen Form, was ein Nervensignal zur Folge hat – dies ist der erste Schritt des Sehvorganges. Das Besondere an Retinal ist, wie an einigen anderen Stoffen, dass beim Einfall eines Lichtstrahls ein Elektron frei beweglich wird und sich im ganzen Molekül bewegen kann. Dieser Vorgang ist ein klassischer Fall für die Quantenphysik. 1972 veröffentlichten Karplus und Warshel einen Artikel, in dem erstmals die Fusion von klassischer und quantenphysikalischer Berechnung eines Moleküls gelang.

In den folgenden Jahren kooperierte Warshel in Harvard mit Michael Levitt, der vor allem die Erbmoleküle DNA und RNA sowie Eiweiße erforscht hatte. Sie schafften es bis 1976, mit der neuen klassisch-quantenphysikalischen Methode erste enzymatische Reaktionen zu modellieren und zu verstehen. Enzyme sind Katalysatoren – Eiweiße, die alle biologischen Prozesse steuern. Dabei untersuchten die Forscher auch das Enzym Lysozym, das große Bedeutung als Waffe gegen Bakterien hat.

Eigentlich sind die beiden miteinander vermählten Methoden zwei unabhängige Welten. Aber den Forschern gelang es, die Molekülteile zu unterscheiden in jene, die man mit klassischen Formeln beherrschen kann, und in jene, die man mit quantenphysikalischen Formeln beschreiben muss. Üblicherweise unterscheiden Chemiker zwei Bereiche in komplexen Molekülen: das reaktive Zentrum und Strukturen, die sich darum herum gruppieren. Im reaktiven Zentrum muss man die Quantenphysik bemühen. Im Bereich darum kommt man mit klassischen physikalischen Gesetzen aus. Und in einer weiteren Schale darum herum kann man – bei der Modellierung im Computer – sogar Molekülteile „bündeln“.

Das Simulieren im Computer vereinfacht und beschleunigt die Arbeit des Chemikers. Will etwa ein Pharmakologe einen komplex aufgebauten Wirkstoff für eine medikamentöse Therapie entwickeln, kann er dessen Wirkung zunächst im Rechner testen. Er kann also virtuell viele Wirkstoffkandidaten mit biologischen Strukturen im Körper reagieren lassen und so die Spreu vom Wirkstoffweizen trennen. Nur Kandidaten, die sich im Rechner als geeignet erweisen, werden weiter getestet – an Zellen und Geweben, später an Tieren und schließlich an realen Patienten. Wo Chemiker einst – wie der Chemielehrer in der Schule – mit Kugeln und Stäbchen versuchte, Substanzen zu verstehen, ist heute dank der drei US-Forscher der Computer getreten: Chemie wird virtuell und digital.

So äußerte sich am Mittwoch auch Staffan Normark, der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie der Wissenschaften: „Dieser Preis handelt davon, das Chemie-Experiment in den Cyberspace zu bringen.“ Karplus, Levitt und Warshel hätten die Grundlage für die Computerprogramme gelegt, mit denen chemische Prozesse verstanden und vorhergesagt werden, begründete die Akademie ihre Entscheidung. Heute sei der Computer ein ebenso wichtiges Werkzeug für Chemiker wie Erlenmeyerkolben und Reagenzglas.