Peter Higgs und François Englert hatten 1964 dieselbe Idee, wie Teilchen zu ihrer Masse kommen. Nun erhalten die Forscher den Physik-Nobelpreis.

Stockholm. Er wolle spazieren gehen, hieß es, er werde überhaupt nicht erreichbar sein, und eigentlich hatte man nichts anderes erwartet von Peter Higgs, jenem schüchternen, zurückgezogen lebenden Professor, den die „New York Times“ den „J. D. Salinger der Physik“ nannte. Am Dienstagmittag meldete sich der 84-jährige Schotte dann aber doch zu Wort, wenn auch nicht direkt: „Ich bin überwältigt, diesen Preis zu bekommen“, ließ er in einem von der Universität Edinburgh verbreiteten Statement mitteilen. Zuvor hatte die Königliche Akademie in Stockholm verkündet, dass sie Higgs und seinem belgischen Kollegen François Englert den Physik-Nobelpreis verleihen wird. Beide hatten 1964 einen Mechanismus beschrieben, der erklärt, wie Teilchen ihre Masse erhalten. Die damals von Higgs veröffentlichten Formeln füllen nur eineinhalb Seiten – und doch sind sie nicht weniger als die mathematische Herleitung, warum wir existieren. Denn zumindest die Welt, die wir kennen – Sterne, Planeten, Menschen, Pflanzen, Tiere – besteht aus Materie. Und diese wiederum besteht aus verschiedenen Teilchen. Damit lassen sich zwar nur knapp fünf Prozent der messbaren Masse und Energie im Universum erklären. Der Rest ist rätselhaft, er besteht vermutlich aus sogenannten Dunklen Materie und der Dunklen Energie. Aber aus unserer Sicht machen die fünf Prozent ziemlich viel aus.

Bis 1964 hatten Teilchenphysiker allerdings ein gravierendes Problem: Sie konnten mit mathematischen Formeln zwar exakt beschreiben, welche Kräfte zwischen den Teilchen in der Natur wirken und welches Verhalten daraus folgt – solange sie davon ausgingen, dass die Partikel keine Masse haben. Masselos sind aber nur Lichtteilchen und Gluonen. Wären alle Teilchen masselos, bewegten sie sich so schnell wie das Licht; es gäbe keine Zusammenballungen: keine Menschen, keine Erde.

Eine mögliche Lösung präsentierten Higgs und Englert. Ihnen zufolge existiert um uns herum ein unsichtbares Feld, dass das ganze Universum durchdringt und anderen Teilchen ihre Masse verleiht, wenn sie mit dem Feld in Wechselwirkung treten. Fliegen sie hindurch, werden sie abgebremst, langsamer und bekommen eine Masse. Auf dieses Feld, schrieb Higgs damals, könnte ein bestimmtes Teilchen hindeuten. Seither tragen das Teilchen und das Feld seinen Namen; das Higgs-Teilchen wurde zum zentralen Baustein im Standardmodell der Teilchenphysik.

Mit ihren Vorhersagen lösten Higgs, Englert und drei weitere Physiker, die Ähnliches erdacht hatten, gewaltige Forschungsaktivitäten aus. Das Standardmodell war zunächst ein weitestgehend unbestätigtes Konstrukt; erst wenige Elementarteilchen, etwa das Elektron, waren tatsächlich nachgewiesen worden. Doch in den folgenden Jahrzehnten gelang es Physikern, fast alle vorhergesagten Mitglieder der Teilchenschar zu finden. Nur das Higgs blieb verborgen, ausgerechnet. Da das Higgs-Feld unsichtbar ist, versuchen Physiker, es über seine Schwingungen zu „erfühlen“. Mit Luft ist so etwas einfach: Man muss nur mit den Händen klatschen und hört diese Wellen als Töne. Schwerer ist es, Wellen im Higgs-Feld zu erzeugen. Dazu braucht es sehr viel Energie. Diese lässt sich herstellen, wenn Teilchen in Beschleunigern aufeinanderprallen. Die stärkste Maschine dieser Art betreibt das Europäische Kernforschungszentrum (CERN) bei Genf. Etwa 100 Meter unter der Erde gelegen, bildet der Large Hadron Collider (LHC) eine 27 Kilometer lange Kreisbahn. Entlang der Strecke befinden sich vier Detektoren. Im LHC werden Atomkerne (Protonen) mithilfe von Magneten beschleunigt und gegenläufig losgeschickt. Fast mit Lichtgeschwindigkeit rasen so mehrere Protonenstrahlen durch den Tunnel, bis sie an den Detektoren zum Zusammenstoß gebracht werden. Dabei zerfallen die Partikel, und es entstehen neue Teilchen. Auf ihren Wegen hinterlassen sie elektrische Signale. Aus der Energie der Partikel schließen die Forscher auf deren Masse. Weil sie inzwischen wissen, welche Partikel welche Masse haben, können sie die Signale bestimmten Teilchen zuordnen. So gelang 2012 die Entdeckung des vorhergesagten Higgs-Teilchens – beinahe ein halbes Jahrhundert nach der theoretischen Beschreibung durch Higgs und Kollegen.

Für diese Leistung bedankte sich der seit 1996 emeritierte Peter Higgs am Dienstag: „Ich möchte auch all denjenigen gratulieren, die zur Entdeckung dieses neuen Teilchens beigetragen haben.“ Die aktiven Forscher dankten ihm: „Seine Idee hat die Teilchenphysik auf 50 Jahre geprägt – und sie wird diese Disziplin wohl noch weitere 50 Jahre prägen“, sagte etwa Peter Schleper, der Vorsitzende des Komitees für Elementarteilchenphysik KET, der Vertretung aller deutschen Teilchenphysiker.

Die Vorhersagen der beiden Physiker lösten enorme Aktivitäten aus

Trotz der Bestätigung des Higgs-Teilchens sind Physiker noch längst nicht arbeitslos. Sie können zwar die Vielfalt der Welt mathematisch beschreiben, aber nicht erklären. Warum das Higgs-Feld den Teilchen eine unterschiedliche Masse verleiht, warum also etwa ein Elektron 2000-mal leichter ist als ein Proton, ist unklar. Und das Standardmodell kann nur einen kleinen Teil des Universums erklären: Phänomene wie die Dunkle Materie sind rätselhaft. Womöglich lassen sie sich durch weitere, bisher unbekannte Teilchen erklären. Diese könnten sich zeigen, wenn im LHC noch stärkere Kollisionen erzeugt werden. Derzeit wird die Maschine technisch aufgerüstet. 2015 sollen neue Experimente beginnen.