Das Schmerzmittel kann das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöhen. Darüber sprach das Abendblatt mit zwei Hamburger Pharmakologen

Hamburg. Diclofenac ist ein bekanntes Schmerzmittel. Es ist in niedrigen Dosierungen rezeptfrei erhältlich und wird von vielen Patienten eingenommen. Doch kürzlich hat die europäische Zulassungsbehörde (EMA) eine Warnung herausgegeben. Danach sollten Patienten mit Herzschwäche, Erkrankungen der Herzkranzgefäße, Durchblutungsstörungen in den Beinen und Gefäßerkrankungen des Gehirns dieses Mittel nicht einnehmen. Auch Patienten mit Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen oder Rauchen sollten diese Mittel nur nach sorgfältiger Prüfung einnehmen. Über die Hintergründe sprach das Abendblatt mit den Wissenschaftlern Dr. Justus Stenzig vom Institut für Experimentelle Pharmakologie und Toxikologie und Prof. Elke Oetjen vom Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie am Universitätsklinikum Eppendorf.

Hamburger Abendblatt:

Bei welchen Patienten wird Diclofenac angewendet?

Dr. Justus Stenzig:

Diclofenac wird typischerweise bei leichten bis mittleren Schmerzen angewendet. Es wird häufig von älteren Menschen mit Wirbelsäulenbeschwerden eingenommen, ist aber auch beim Gichtanfall zusammen mit anderen Medikamenten dieser Klasse Mittel der Wahl.

Seit wann gibt es dieses Medikament?

Stenzig:

Erfunden wurde es 1973 von Wissenschaftlern der Firma Ciba Ceigy, heute Novartis, und ist dann 1974 auf den Markt gekommen.

Warum wird erst jetzt vor diesem Medikament und anderen sogenannten nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) gewarnt?

Stenzig:

Die Nebenwirkungen auf den Magen-Darm-Trakt, also das erhöhte Risiko von Blutungen, sind schon lange bekannt, und davor wird auch schon lange gewarnt. Auch das erhöhte Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle ist schon länger im Gespräch. Dass jetzt die Öffentlichkeit darüber informiert wird, liegt auch daran, dass erst sehr große Studien nötig waren, um die gefäßschädigende Wirkung überhaupt statistisch messbar nachzuweisen. Aufgrund der Größe der Studien, die zuletzt durchgeführt wurden, ist dieser Effekt erst jetzt richtig eindeutig geworden.

Welches Risiko besteht genau?

Stenzig:

Nach zwei großen Studienanalysen kann man jetzt abschätzen, dass Diclofenac das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle ungefähr um das Anderthalbfache erhöht. Die Risikoerhöhungen durch die anderen NSAR unterscheiden sich deutlich. Für Ibuprofen ist die Datenlage noch nicht ausreichend. Für Naproxen konnte bisher kein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen gemessen werden. Bei der Gruppe der sogenannten Coxibe ist es seit Langem bekannt, dass sie das Risiko um das Anderthalb- bis Zweifache erhöhen können. Einige Arzneimittel dieser Gruppe, die das Risiko besonders stark erhöhen, wurden vom Markt genommen, wie etwa das Vioxx.

Durch welchen Mechanismus entsteht das erhöhte Risiko?

Stenzig:

Diclofenac und die anderen Medikamente aus dieser Klasse hemmen ein Enzym, das wiederum ein Hormon herstellt, das die Verklumpung der Blutplättchen hemmt. Das heißt, man hemmt die Hemmung der Blutplättchenverklumpung und die Hemmung der Gefäßengstellung. Beides zusammen fördert das Risiko eines Arterienverschlusses.

Prof. Elke Oetjen:

Derselbe Mechanismus, also die Hemmung dieses Enzyms, ist aber auch für die schmerzlindernde und entzündungshemmende Wirkung verantwortlich.

Wie hat sich die Studienlage verändert?

Stenzig:

Entscheidend war eine dänische Studie, in der durch die Größe von 80.000 Teilnehmern erstmals für Diclofenac eine Erhöhung des Risikos um das Anderthalbfache auch bei Kurzzeitanwendungen über ein bis sieben Tage festgestellt werden konnte. Vorher war immer nur bekannt, wie es bei einer Dauertherapie über vier Wochen aussieht. Dafür war ein gewisses Herz-Kreislauf-Risiko bekannt, aber nicht sicher. Die dänische Studie ist auch nicht ohne Kritik aufgenommen worden. Denn die Patienten, die nach einem Herzinfarkt in die Studie eingeschlossen wurden, hatten ohnehin ein erhöhtes Risiko. Und sie haben die Medikamente der Klasse zu der auch Diclofenac gehört, die NSAR, nur eingenommen, wenn sie Schmerzen hatten, und Schmerzen erhöhen selbst ebenfalls das Risiko für unerwünschte Wirkungen im Herz-Kreislauf-System. Dadurch können die Ergebnisse etwas drastischer aussehen als sie sind. Dann kamen dieses Jahr zwei neue Studien hinzu, die beide bestätigt haben, dass auch „normale“ NSAR, also nicht nur die Coxibe, das Herz-Kreislauf-Risiko erhöhen.

Wie hoch ist das Herz-Kreislauf-Risiko durch Diclofenac für die unterschiedlichen Patientengruppen?

Stenzig:

Die Patienten, die ohnehin schon ein erhöhtes Risiko für Erkrankungen der Blutgefäße und des Herzens haben, haben noch mehr Nachteile, wenn sie das Schmerzmittel Diclofenac einnehmen.

Welche Wechselwirkungen haben NSAR mit anderen Medikamenten?

Stenzig:

Sie können die Wirkung von einigen Blutdrucksenkern, den ACE-Hemmern und Betablockern, einschränken. Diclofenac und andere NSAR können die Wirkung von Acetylsalicylsäure, kurz ASS, einschränken. Deswegen sollten Patienten, die ASS zur Prophylaxe von Herz-Kreislauf-Erkrankungen einnehmen, die NSAR mindestens ein bis zwei Stunden später nehmen. Außerdem können NSAR den Blutspiegel des Rheumamittels Methotrexat erhöhen sowie die Blutspiegel von Lithium, dem Herzmittel Digitalis oder dem Epilepsiemittel Phenytoin.

Bei Patienten, die den „Blutverdünner“ Marcumar bekommen, kann die Einnahme von NSAR das Risiko einer Blutung erhöhen, weil die NSAR in niedriger Dosis kurzfristig die Verklumpung der Blutplättchen hemmen.

Sollte man jetzt ganz auf Diclofenac verzichten?

Stenzig:

Nein, denn Schmerzen bedeuten auch Stress und können Herzinfarkt und Schlaganfälle provozieren. Für Schmerzen, die mit einer Entzündung einhergehen, gibt es wenig Alternativen. Wir stimmen da mit der EMA überein, die der Meinung ist, dass bei korrekter Indikation der Nutzen das Risiko von Diclofenac überwiegt und es deswegen ein sinnvoll einsetzbares Medikament ist, aber eben nicht für alle.

Was ist die Alternative?

Stenzig:

Bei Patienten mit Schmerzen ohne entzündliche Komponente kann Paracetamol eine Alternative sein, obwohl es bei hoher Dosierung die Leber schädigt. Bei sehr schweren Schmerzen ohne Entzündung kann Metamizol eine Alternative sein. Dabei ist zu beachten, dass in sehr seltenen Fällen die weißen Blutkörperchen drastisch verringert werden. Bei Schmerzen mit Entzündungskomponenten wie Gelenkschmerzen oder Zahnschmerzen hat man zurzeit nur Alternativen aus der gleichen Medikamentengruppe. Hier müssen weitere Studien Alternativen zeigen. Da könnte Ibuprofen infrage kommen oder Naproxen. Letzteres kann aber sehr starke Magen- und Darmbeschwerden verursachen und sollte mit einem magenschützenden Medikament kombiniert werden.

Warum wird Diclofenac immer noch rezeptfrei verkauft?

Für viele Arten von Schmerzen, die oft nur kurz auftreten, zum Beispiel Gelenkschmerzen nach Gelenkbelastungen oder Zahnschmerzen, stehen nur wenige andere Medikamente zur Verfügung. Oft sind es Schmerzen, die keinen Arztbesuch nötig machen. Deswegen wird es für vertretbar gehalten, dass Patienten sich für den Kurzzeitgebrauch dieses Medikament unter Beachtung der Indikation und Kontraindikation selber kaufen. Je niedriger dosiert und je kürzer die Anwendung, desto risikoärmer ist das Medikament. Deswegen ist die Rezeptfreiheit auf 25 Milligramm pro Einzeldosis begrenzt. Es sollten nicht mehr als 75 Milligramm pro Tag eingenommen werden.

Gilt die Warnung auch für Diclofenac-Salben?

Stenzig:

Nein, die Dosis, die im Blut ankommt, ist sehr viel geringer als bei den eingenommenen Medikamenten, sodass die Salben nach dem jetzigen Kenntnisstand auch weiterhin ohne Einschränkung angewendet werden können.