Das Ziel: Herauszufinden, ob Chemotherapie oder Hormonbehandlung Erfolg versprechen. Bei der Mehrzahl der Brustkrebspatientinnen ist heute eine brusterhaltende Operation möglich.

Hamburg. „Vor zwei Jahren war mein Leben sorglos und einfach, da musste ich mir keine Gedanken darüber machen, wie man einen Minister anschreibt,… Brustkrebs kriegten nur andere.“ „Mein Körper fühlte sich über lange Zeiträume an, als hätte ihn jemand mit einer Eisenstange malträtiert… Nach überstandener Chemotherapie ist es leider nicht vorbei. Zurück bleibt ein Scherbenhaufen…“ Die Zitate stammen aus Briefen an Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP). Mehrere Dutzend Frauen haben sich mit sehr offenen und emotionalen Bekenntnissen über ihren Brustkrebs und ihre Chemotherapien an ihn gerichtet. Die Briefe liegen dem Abendblatt vor.

Gemeinsames Ziel der Frauen: Die Kosten für einen Gentest sollen weiter für Kassenpatientinnen übernommen werden. Mit der sogenannten Genexpressionsanalyse wollen Ärzte herausfiltern, welche Frauen möglicherweise auf eine Chemo verzichten können – weil das Rückfallrisiko für ihren Krebs als niedrig eingestuft wird und eine Hormonbehandlung ausreichen könnte. Haarausfall, Erbrechen, unendliche Müdigkeit, Empfindungsstörungen an Händen und Füßen – für Patientinnen kann die Chemotherapie eine Tortur sein und Jahre später noch Folgen haben. Bislang war die Abrechnung für Kassenpatientinnen bei einem speziellen Test durch ein Schlupfloch möglich, damit könnte jedoch bald Schluss sein.

In Deutschland erkranken jährlich mehr als 72.000 Frauen neu an Brustkrebs. 2010 waren es in Hamburg mehr als 1700 Frauen, 378 starben an der Krankheit.

Es gibt mehrere solcher Genexpressionstests für Brustkrebspatientinnen. Der Markt ist laut Experten hart umkämpft, und die Frauen haben Angst, Spielball finanzieller Interessen zu sein, ob vonseiten der Chemotherapeutika-Industrie oder anderer Hersteller und Akteure im Gesundheitssystem.

Das aktuelle Beispiel betrifft nicht nur Brustkrebs, sondern in der Konsequenz viele weitere Patienten und Krankheiten, für die Gentests auf den Markt kommen. „Die große Frage lautet: Wie schnell können wir Wege finden, um Innovationen zeitnah an den Patienten zu bringen?“, fasst Prof. Christoph Röcken, Pathologe vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel zusammen. Seit dem vergangenen Jahr hat sein Team das Tumorgewebe von etwa 160 Frauen mit dem Test EndoPredict untersucht, um den derzeit gestritten wird.

„Einerseits haben wir neue Verfahren, um die Krebsdiagnostik und -behandlung individueller zu machen. Das ist eine große Chance, und wir ernten die Ergebnisse aus vielen Jahren Forschung“, sagt Röcken. „Andererseits sind viele dieser Mittel teuer, und ich habe ein gewisses Verständnis für die Kostenträger, dass sie genau wissen wollen, ob diese Neuheiten sicher sind, einen wirklichen Nutzen haben und bezahlt werden sollen.“ In Hamburg gibt es laut Hersteller Sividon Diagnostics bislang keinen Pathologen, der diesen Test durchführt. Kliniken der Hansestadt verschickten Proben aber durchaus an Institute in anderen Bundesländern, sagt eine Sprecherin.

Bei der Mehrzahl der Brustkrebspatientinnen ist heute eine brusterhaltende Operation möglich. Je nach Tumor kommen zusätzliche Verfahren wie eine Strahlen- oder Chemotherapie hinzu, teils werden zielgerichtete Antikörper oder eine sogenannte Antihormontherapie angewendet. Der Test richtet sich an Patientinnen mit Brustkrebs, der auf eine Hormonbehandlung anspricht. Anhand verschiedener Kriterien teilen die Ärzte Patientinnen in Risikogruppen ein. Für jene mit einem mittleren Risiko soll der Test gelten. Das Tumorgewebe wird auf acht Gene untersucht und danach mit Lymphknotenbefall und Tumorgröße ein Wert errechnet. Dieser soll für die Entscheidung „Chemo: Ja oder Nein?“ zu Rate gezogen werden. Der Test wurde laut Hersteller bereits bei 1800 Frauen im deutschsprachigen Raum verwendet.

Bisher können Pathologen für den Test über bestimmte Ziffern mit den Kassenärztlichen Vereinigungen rund 1800 Euro abrechnen. Ende Juni jedoch entschied der sogenannte Bewertungsausschuss, dass diese Ziffern präzisiert werden sollen – die Abrechnung für Kassenpatientinnen wäre dann zum 1. Oktober nicht mehr möglich. In diesem Ausschuss sitzen Vertreter des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Aus dem Ausschuss sind Zweifel über die Zuverlässigkeit der Tests zu hören. „Wie sicher ist das Testergebnis wirklich? Wird durch den Test ein höherer Nutzen für die Brustkrebspatientinnen erreicht als mit bisherigen Untersuchungen?“, fragt GKV-Spitzenverbandssprecher Florian Lanz. „Ein bestimmter Anteil der Frauen kann und wird womöglich nach dem Test auf eine Chemotherapie verzichten. Die Frage ist nur, wie viele Prozent der Frauen, die dann keine Chemotherapie machen, hätten eigentlich doch davon profitiert und erleiden einen Rückfall, weil sie darauf verzichtet haben? Bislang reicht die Studienlage nicht aus, um darüber sichere Aussagen zu machen.“

Diesem Argument folgt auch Dr. Isabell Witzel, Leiterin des Brustzentrums am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. „Der Test kann wohl das Rückfallrisiko der Frauen sehr gut anzeigen. Aber der Rückschluss, dass man wirklich auf eine Chemotherapie verzichten kann, ist bislang eine Hypothese.“ Der EndoPredict werde derzeit aus Unsicherheit über die Abrechnung nicht am UKE verwendet. Einen ähnlichen Test aus den USA wenden die Mediziner dort etwa zweimal im Monat an, bei „Grenzfällen“. Der Oncotype DX kostet ca. 3000 Euro, die Kosten trügen die Frauen zusammen mit dem Hersteller. Auch das Team um Prof. Christoph Lindner vom Agaplesion Diakonieklinikum nutzt den US-Test. Die Klinik nimmt unter anderem an einer Pilotstudie teil, in der diese Methode bei Patientinnen überprüft werden soll.

Nach Lindners Einschätzung könnten 20 bis 30 Prozent aller Brustkrebspatientinnen für eine Genexpressionsanalyse infrage kommen. Möglicherweise könnten bis zu zehn Prozent der mehr als 72.000 Frauen eine Chemotherapie erspart werden. Mit Blick auf Leiden, Langzeitfolgen und auch Kosten, die die Therapie verursache, für Lindner ein „gewichtiges Argument“, die Etablierung einer solchen Analyse zu fordern. Andere Zahlen sprechen von 15.000 Frauen, denen eine Chemotherapie erspart werden könnte.

Aus Sicht des Test-Herstellers reichen die Studien aus, die es bislang gibt. So wurde unter anderem das Tumorgewebe von mehr als 1700 Patientinnen untersucht und in Risikogruppen eingeteilt, die im Rahmen einer österreichischen Studie therapiert worden waren. Die Ergebnisse wurden damit verglichen, wie es den Patientinnen in den Folgejahren tatsächlich erging.

Das Unternehmen verweist auf die Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologie (AGO), in denen die Analysen aufgenommen sind und ihnen der höchste Level an Beweiskraft zugeteilt wurde. Aber die AGO empfiehlt sie bisher nicht generell: „Tests wie EndoPredict oder Oncotype DX sind gute Tests und können von großem Nutzen für einzelne Frauen sein“, sagt Prof. Wolfgang Janni, stellvertretender Sprecher der Kommission Mamma der AGO. „Sie sind aber nach bisheriger Datenlage noch nicht für eine breite Gruppe von Brustkrebspatientinnen routinemäßig zu empfehlen.“

Gefordert werden sogenannte randomisierte, kontrollierte und prospektive Studien. Darin werden Patienten zufällig in zwei Gruppen eingeteilt und dann unterschiedlich versorgt. Nach einer gewissen Zeit – oft vergehen Jahre – wird beurteilt, ob eine neue Therapie oder eine Methode ein Mehr an Nutzen und Wirksamkeit für die Patienten bringen.

Für Eva Schumacher-Wulf ist diese Zeit zu lang. Die Chefredakteurin des Brustkrebsmagazins „Mamma Mia“ erkrankte vor neun Jahren und ließ ihren Tumor damals mit Gentests untersuchen. „Mir geht es um die Mitbestimmung der Frauen. Wenn man ihnen erklärt, wie die bisherige Studienlage zu den Tests aussieht, sind viele durchaus in der Lage zu entscheiden, ob ihnen der ermittelte Wert aussagekräftig genug ist, um auf eine Chemotherapie zu verzichten.“ Schumacher-Wulf gibt zu Bedenken, dass mit dem Test ja auch Frauen ermittelt würden, die nach bisherigen Risikoeinschätzungen fälschlicherweise keine Chemo erhalten hätten und somit nicht ausreichend behandelt worden wären. Sie betont auch, dass es ihr nicht um das Voranbringen eines einzelnen Tests gehe, sondern generell um derartige Methoden.

Die Aufnahme von neuen Tests oder Medikamenten in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen ist in Deutschland eigentlich die Aufgabe des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Verschiedene Akteure können Prüfanträge einreichen, auch der Hersteller im Zuge einer neuen Regelung. „Man kann einen Antrag auf Erprobung beim G-BA stellen, wenn man ein neues Produkt hat, dessen Wirksamkeit und Nutzen noch unklar sind“, sagt Sividon-Geschäftsführer Christoph Petry. Das sei beim EndoPredict aber nicht der Fall. Zudem seien die verwendeten Methoden nicht neu. Der G-BA nimmt derzeit jedoch ein anderes Verfahren unter die Lupe, das Tumorgewebe auf Eiweiße untersucht und bei einer Therapieentscheidung helfen soll. Dieses gibt es bereits seit mehr als zehn Jahren.

„Neu“ oder „nicht neu“? Darüber sind sich die Experten bei Genexpressionsanalysen offenbar nicht einig. Würde der EndoPredict tatsächlich nicht als neue Methode eingestuft, dann könnte der Bewertungsausschuss eine Abrechnung für Kassenpatientinnen ermöglichen. So die Einschätzung des Unternehmens.

Momentan prüft das Bundesgesundheitsministerium den kritisierten Entschluss von Ende Juni, der für den Aufruhr unter den Patientinnen sorgte. Die Rechtsaufsicht für solche Beschlüsse liegt im Ministerium, es wurden in diesem Fall Unterlagen nachgefordert. Nach Auskunft eines Sprechers hat der Bewertungsausschuss zugesichert, seinen Ermessensspielraum und die Beweislage für den Test zu prüfen. Das Ministerium wird voraussichtlich im Oktober dazu Stellung beziehen.