An der Hochschule für Angewandte Wissenschaften diskutierten Experten, wie sich die enorme Lebensmittelverschwendung reduzieren lässt

Hamburg. Ein kanadischer Braunbär steht zur Laichzeit in einem Lachsfluss. Er fängt einen Fisch nach dem anderen und lässt einen Teil der Beute halb aufgefressen achtlos fallen, weil ihm schon der nächste Lachs vors Maul springt. Einen solch verschwenderischen Umgang mit Nahrungsmitteln praktizieren Menschen rund ums Jahr, zumindest in wohlhabenden Industrieländern. Jeder Deutsche wirft jährlich im Schnitt 82 Kilogramm Lebensmittel weg. Das Forschungs- und Transferzentrum Applications of Life Sciences (Anwendung von Lebenswissenschaften) an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) hat sich des Themas angenommen und kürzlich zu einem Kolloquium eingeladen.

"Wir brauchen einen respektvolleren Umgang mit Essen, so wie zu Omas Zeiten. Damals musste alles gegessen werden, Reste wurden weiterverarbeitet", sagt Prof. Walter Leal, Leiter des Transferzentrums und Gastgeber der Tagung. "Früher waren Lebensmittel knapp, heute herrscht dagegen ein Überangebot, das die Wertschätzung schmälert." So sorgen allein die deutschen Haushalte dafür, dass jährlich 6,67 Millionen Tonnen Lebensmittel im Abfall landen. Zusammen mit den Verlusten bei Großverbrauchern, Industrie und Handel summiert sich die Nahrungsvernichtung auf fast elf Millionen Tonnen.

Diese Zahlen haben Forscher der Universität Stuttgart im Auftrag des Bundeslandwirtschaftsministeriums ermittelt. Nach der Studie wird in den Haushalten vor allem Obst und Gemüse weggeworfen, sie machen 43,3 Prozent der Lebensmittelabfälle aus, gefolgt von Backwaren (15,1 Prozent), Speiseresten (12,4 Prozent) und Milchprodukten (7,9 Prozent). Große Verluste basieren auf einem Irrtum: "Rund 84 Prozent der Bürger werfen Lebensmittel in den Müll, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist", sagt Leal, oft würden ungeöffnete Verpackungen ohne weitere Prüfung weggeworfen. Dabei gibt das Datum nur den Zeitpunkt an, bis zu dem das Lebensmittel laut Hersteller seine höchste Qualität hat.

Die Hamburger Verbraucherzentrale rät, sich nicht sklavisch am Herstellerdatum zu orientieren: "Prüfen Sie das Lebensmittel mit allen Sinnen. Hat es sich verfärbt, hat sich Schimmel gebildet, riecht es komisch, haben sich Gase gebildet? Dann werfen Sie es im Zweifelsfall lieber weg." Dasselbe gilt, wenn ein Verbrauchsdatum etwa bei Fleischprodukten überschritten sei. Denn bei solch empfindlichen Lebensmitteln bestehe die Gefahr, dass sich Keime vermehren.

Leals HAW-Kollege Prof. Jan Fritsche hat die Ursachen für Lebensmittelverluste entlang der Versorgungskette bis zur Ladentheke untersucht. Der erste Schwund setzt bereits auf dem Acker ein: Essbare Pflanzen und Früchte werden auf dem Feld zurückgelassen, durch schlechte Erntetechnik beschädigt, von Schädlingen heimgesucht. Letztere können auch während des Transportes und der Lagerung auftreten. Weitere Lebensmittel werden verschüttet, oder sie trocknen aus. Werden Nahrungsmittel verarbeitet, entstehen ebenfalls Verluste, etwa durch sehr hohe Qualitätsanforderungen der Hersteller. Zudem verführten zwischen den Handelspartnern vertraglich festgelegte Strafen bei Nichtlieferung oder auch Rücknahmeklauseln zur Überproduktion, so Fritsche.

Bei der Vermarktung sorgen unter anderem ungeeignete Verpackungen, unzureichende Hygiene, unterbrochene Kühlketten, gesetzliche Normen und die Qualitätsanforderungen des Handels dafür, dass ein weiterer Teil der Nahrung verloren geht. Doch der Löwenanteil der Verluste fällt in den Haushalten an. Allein sie summieren sich nach Angaben des Bundeslandwirtschaftsministeriums auf einen jährlichen Wert von 235 Euro pro Person.

An allen Stationen der Versorgungskette sei die Prävention der beste Lösungsansatz, sagt Walter Leal. Verluste sollten möglichst gar nicht erst entstehen. Nach den Stuttgarter Untersuchungen sind zwei Drittel der Abfälle vermeidbar. Nur beim letzten Drittel waren die Lebensmittelreste tatsächlich verdorben und somit nicht mehr genießbar. Leal: "Hier wäre es sinnvoll, aus ihnen - wie dies in Hamburg geschieht - Biogas und damit Energie zu gewinnen. Man könnte sie auch kompostieren und in der Landwirtschaft einsetzen. Wir verhandeln gerade mit der EU über ein dreijähriges Forschungsprojekt. Es soll untersuchen, ob sich diese Ansätze, also die Prävention, Biogasgewinnung und Kompostierung, im afrikanischen Lesotho anwenden lassen. Denn unser Transferzentrum ist darauf ausgerichtet, innovative Projekte nicht nur in Europa, sondern auch in Lateinamerika, in der Karibik, in Afrika und im Südpazifik zu initiieren."

HAW-Kollegin Prof. Katharina Riehn befasst sich schwerpunktmäßig mit der Nutzung von Schlachtabfällen. Die Verbraucher wollen etwa vom Schwein nur Filets, Koteletts und Schinken, während in früheren Hausschlachtungen traditionell das ganze Tier verarbeitet wurde. Viele verschmähte Teile könnten zumindest als Tierfutter dienen. Riehn: "Beim Schwein werden derzeit nur 60 Prozent aller essbaren Produkte verwertet, bei Rindern, Schafen und Ziegen sogar nur die Hälfte. Teile wie Pfoten, Zunge, Blut, bestimmte Fleisch- und Fettabschnitte werden nicht nachgefragt."

Seit der BSE-Krise sei es verboten, solche Schlachtabfälle als Tierfutter zu nutzen, so Riehn. Doch das EU-weite Fütterungsverbot werde allmählich aufgeweicht. Vom 1. Juli an dürften BSE-risikoarme Schlachtreste von Wiederkäuern zu Fischfutter verarbeitet werden, im Jahr 2014 könnten Lockerungen für Schweine- und Geflügelfutter kommen.

Kanadas Braunbären werden dagegen an ihrer Lachskost festhalten, Verschwendung hin oder her.