Der Cern-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer rechnet fest damit, dass das neue Teilchen spätestens im April sicher bestimmt ist.

Hamburg. Im Sommer machten die Teilchenphysiker womöglich ihre Entdeckung des Jahrhunderts: Am europäischen Kernforschungszentrum Cern nahe Genf beobachteten sie ein neues Elementarteilchen, das bislang in ihrer Sammlung fehlte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich um das sogenannte Higgs-Boson, um den letzten fehlenden Baustein im Standardmodell der Teilchenphysik. Es erklärt, wie alle anderen Teilchen, ja sämtliche Materie, eine Masse bekommen. Auch fünf Monate nach dieser Entdeckung mag sich Prof. Rolf-Dieter Heuer, Generaldirektor des Cern, nicht darauf festlegen, dass der Winzling tatsächlich das lang gesuchte Higgs-Teilchen ist. "Wir haben weitere Daten einbezogen, dadurch hat sich die Sicherheit unserer Ergebnisse weiter erhöht. Aber erst, wenn wir alle Daten aus diesem Jahr ausgewertet haben, werden wir wirklich sicher sein", sagte er am Dienstag bei seinem Besuch des nationalen Beschleunigerzentrums Desy (Deutsches Elektronen-Synchrotron) in Hamburg-Bahrenfeld.

Erstmals seit gut einem Jahr kehrte Heuer an seine ehemalige Wirkungsstätte zurück, an der er von 2005 bis 2008 Forschungsdirektor war. Er kam zur Jahrestagung des Forschungsverbunds "Physik an der Teraskala", ein von der Helmholtz-Gemeinschaft gefördertes Netzwerk aller 18 Forschungszentren und Universitäten, die an den Experimenten am Cern und an weiteren Beschleunigerprojekten beteiligt sind. In dem Kernforschungszentrum arbeitet der leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger der Welt: der Large Hadron Collider, kurz LHC. Durch den 27 Kilometer langen Beschleunigerring rasen Protonen (Wasserstoffatomkerne), in zwei Rohren getrennt, einmal mit und einmal gegen den Uhrzeigersinn. In vier großen Experimentierhallen werden die Protonen zur Kollision gebracht - in einer unvorstellbar hohen Zahl von einer Milliarde Kollisionen pro Sekunde. Dies geschieht mit einer ebenfalls weltweit einzigartig hohen kinetischen Energie von derzeit acht Teraelektronenvolt (TeV).

Dabei entstehen Bedingungen wie Sekundenbruchteile nach dem Urknall - und Zerfallsprodukte, die Aufschluss geben über die kleinsten Bausteine von Materie. Erst diese Energiestufe machte die Entdeckung des mutmaßlichen Higgs-Teilchens möglich. Heuer: "Wir suchen jetzt nach einer bestimmten Eigenschaft des neuen Teilchens - es darf keinen Eigendrehimpuls haben. Ich gehe davon aus, dass wir diese Eigenschaft spätestens bis April 2013 bestimmt haben werden." Dann wäre die Entdeckung des fundamentalen Teilchens endgültig bestätigt.

Doch diese Erkenntnis ist erst der Einstieg in die Suche nach immer mehr Details zum Higgs- und zu anderen Teilchen, um das Gedankengebäude der theoretischen Physik zu untermauern. Darin beschränke sich die Forschung am Cern aber nicht, betont Heuer: "Wir gucken nach allem, was sich in den Kollisionen abspielt, und nicht nur nach dem, was die Theoretiker uns sagen" - erst dadurch eröffnet sich den Forschern die Chance, ganz neue physikalische Zusammenhänge zu entdecken.

Damit dies noch besser als bisher gelingt, wird der LHC-Betrieb vom kommenden Februar an knapp zwei Jahre lang ruhen. Techniker und Ingenieure nutzen die Zeit für Wartungsarbeiten und wollen zugleich den Beschleuniger weiter ausbauen, damit die Protonen so schnell durch den Ring rasen, dass sie mit einer Energie von 14 TeV aufeinanderprallen.

Wie groß die technische Herausforderung ist, lässt sich am Beispiel der Stromverbindungen erkennen: Die Genfer Hochstromkabel halten Stromstärken von knapp 12 000 Ampere aus - der Haushaltstrom liegt bei 16 Ampere. "Um den LHC mit der höheren Leistung sicher betreiben zu können, müssen wir alle 10 000 Hochstromverbindungen mit Klammern verstärken. Zehn bis 15 Prozent müssen wir komplett erneuern, das sind mehr als tausend Verbindungen", erläutert Rolf-Dieter Heuer.

Solange die Techniker das Sagen haben, werden die Wissenschaftler die bislang erhobenen Daten weiter auswerten. In zwei Jahren geht der LHC dann in seine nächste Betriebsphase, auf die sich der Herr des Ringes sehr freut: "Wenn wir 2015 den LHC wieder in Betrieb nehmen werden, und die Kollisionen mit deutlich höherer Energie erfolgen, wird uns ein völlig neues Fenster in die Teilchenwelt geöffnet", sagt Heuer. "Ich hoffe, wir werden dann weitere neue Teilchen entdecken. Und ich hoffe auch, dass die öffentliche Aufmerksamkeit an unserer Forschung nicht nachlässt."