Jahrzehntelang suchen Physiker nach dem Higgs-Teilchen, das als letzter unbekannter Baustein der Materie gilt. Nun haben sie passende Daten dazu gewonnen. Ganz sicher ist aber noch nicht, ob es sich wirklich um das sogenannte Gottesteilchen handelt.

Genf/Berlin. Europäische Physiker haben höchstwahrscheinlich das jahrzehntelang gesuchte Higgs-Teilchen gefunden. Dies gilt als letzter unbekannter Baustein der Materie und soll erklären, warum sie überhaupt eine Masse hat. Die Daten zeigten mit sehr hoher Signifikanz ein Teilchen bei 125 GeV (Giga-Elektronenvolt), berichteten Physiker am Mittwoch am europäischen Kernforschungszentrum Cern in Genf. Es sei mehr Forschung nötig, um die Eigenschaften des Teilchens zu ermitteln, sagten die vortragenden Forscher unisono.

Die Daten zeigten klare Signale von einem neuen Teilchen im Signifikanzbereich von 5 Sigma. Das gilt als Grenze, damit eine Entdeckung wirklich anerkannt ist. „Die Ergebnisse sind vorläufig, aber das 5-Sigma-Signal im Bereich um 125 GeV, das wir sehen, ist drastisch“, teilte das Cern mit. „Es ist schwer, nicht aufgeregt zu werden bei diesen Ergebnissen“, sagte Cern-Forschungsdirektor Sergio Bertolucci. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich nur um einen Messfehler handelt, liegt laut Cern bei rund eins zu einer Million.

Im derzeitigen Standardmodell der Materie hätten die Teilchen ohne Higgs-Feld keine Masse. Dieses durchzieht nach Annahme der Physiker das Universum und ist unsichtbar wie das Magnetfeld oder elektrische Felder. Durch die Wechselwirkung der Materieteilchen mit dem Higgs-Feld wird demnach die Masse erzeugt. Wenn das Higgs-Teilchen gefunden ist, ist dies auch der Hinweis auf die Existenz des Higgs-Feldes. „Was sich hier anbahnt, ist für mich bisher die Entdeckung des Jahrhunderts“, schwärmte Joachim Mnich, Forschungsdirektor des Deutschen Elektronen-Synchrotrons Desy in Hamburg, der auch am Cern arbeitet. „Am deutlichsten überzeugt mich, dass wir in den zwei unabhängigen Datensätzen aus dem letzten und aus diesem Jahr das gleiche Signal sehen, und das konsistent in beiden Experimenten, Atlas und CMS.“ Beide sind am Cern angesiedelt.

Doch die Physiker bleiben vorsichtig: „Jetzt müssen wir herausfinden, ob es sich bei dem neuen Teilchen tatsächlich um den noch fehlenden Baustein des Standardmodells handelt“, sagte Achim Stahl von der RWTH Aachen. Er ist deutscher Sprecher des CMS-Experiments am Cern. „Es könnte auch ein Higgs-Teilchen sein, das nicht ins Standardmodell passt, oder etwas gänzlich Unerwartetes. Alles wären große Entdeckungen, nicht nur für die Teilchenphysik.“ Vor 50 Jahren sei das Higgs-Teilchen nicht als sehr bedeutend erschienen, „aber nun wurde es zum letzten fehlenden Puzzle-Teil des Standardmodells“, sagte Tom Kibble, Emeritus der Imperial University, der das Teilchen damals mitpostulierte. „Seine Entdeckung wird ein Kapitel beenden, aber nicht die ganze Geschichte.“ Nicht ein zitierter Physiker sprach von einem Gottesteilchen, es bleibt noch viel zu forschen. Die mit dem Higgs-Teilchen erklärbare Materie macht nur 4 Prozent des Universums aus, daneben gibt es die mysteriöse Dunkle Materie (23 Prozent) und die postulierte Dunkle Energie (73 Prozent).

Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) nannte die Entdeckung eine „wissenschaftlichen Sensation“ und gratulierte den beteiligten Wissenschaftlern. „Die Suche nach dem Higgs-Teilchen hat nun fast 50 Jahre gedauert, aber nun könnte die Entdeckung gelungen sein. Die Ausdauer und Neugier der Wissenschaftler wurde belohnt.“ Das Forschungsministerium ist nach eigenen Angaben der größte Cern-Förderer. Es zahle jährlich rund 180 Millionen Euro und damit etwa 20 Prozent der Mitgliedsbeiträge des Cern-Haushaltes. Zudem habe das Ministerium in den vergangen 15 Jahren deutsche Hochschulen für ihre Arbeit am LHC mit insgesamt 175 Millionen Euro gefördert. Nach Desy-Angaben sind mehr 700 deutsche Wissenschaftler an den beiden Experimenten Atlas und CMS beteiligt. Sie kämen aus 16 Universitäten und 3 Forschungszentren.

In dem 27 Kilometer langen Beschleunigering LHC bei Genf schießen Forscher mit hoher Energie Atomkernbestandteile – sogenannte Protonen - aufeinander. Dabei erzeugen sie Teilchen, wie sie beim Urknall existierten und messen diese mit Hilfe riesiger Detektoren. Insgesamt haben sie nach Desy-Angaben Billiarden solcher Kollisionen untersucht, tausende Forscher waren an der Suche nach dem Higgs-Teilchen beteiligt. (dpa)