Mehr als 30.000 genetische Veränderungen haben Forscher in den Tumorzellen entdeckt. Ein Schritt zur individuellen Therapie.

Hamburg. Jede neunte Frau erkrankt im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Allein in Deutschland wird jährlich bei rund 72 000 Frauen diese Diagnose neu gestellt - und doch ist kein Brustkrebs wie der andere. Das hat jetzt eine große amerikanische Studie gezeigt, deren Ergebnisse in der Fachzeitschrift "Nature" veröffentlicht wurden.

Mithilfe feinster Analysemethoden haben Forscher des Netzwerks Cancer Genome Atlas den genetischen Code des Brustkrebses entschlüsselt. Bei der Untersuchung von mehr als 500 Brustkrebspatientinnen fanden sie in den Chromosomen der Krebszellen mehr als 30 000 Veränderungen, die sie von gesunden Zellen unterschieden und die zu dem Tumor geführt hatten.

"Die Ergebnisse dieser unglaublich aufwendigen Studie, in der alle heute zur Verfügung stehenden molekulargenetischen Untersuchungstechniken eingesetzt wurden, sind ein weiterer großer Schritt auf dem Weg zu einer besseren, effektiveren Behandlung unserer Brustkrebspatientinnen", sagt Prof. Christoph Lindner, Chefarzt der Frauenklinik und des Brustzentrums am Agaplesion-Diakonieklinikum in Hamburg und Ärztlicher Direktor des Krankenhauses.

In der Behandlung des Brustkrebses hat sich in jüngster Zeit ein enormer Wandel vollzogen. Noch bis vor wenigen Jahren war für das Vorgehen der Ärzte vor allem entscheidend, wie groß der Tumor war und ob bereits Lymphknoten befallen waren. Diese Faktoren rücken immer mehr in den Hintergrund. Heute zählt vor allem die biologische Struktur der Tumoren. Denn neben der Standardbehandlung mit Operation, Chemotherapie und Bestrahlung spielen Therapiemöglichkeiten, die sich gezielt gegen besondere Eigenschaften der Krebszellen richten, eine immer wichtigere Rolle.

Diese zellbiologischen Merkmale liefern die Grundlage dafür, dass alle Brustkrebsarten, so unterschiedlich sie auch sein mögen, heute vier Klassen zugeordnet werden. "Die günstigste Klasse sind die ganz langsam wachsenden Typen, deren Wachstum durch das weibliche Geschlechtshormon Östrogen stimuliert wird", erklärt Lindner. Klasse zwei ist ebenfalls von diesem Hormon abhängig, aber schnell wachsend. Die dritte Klasse besitzt keine Rezeptoren für Östrogen, aber den Rezeptor für den Wachstumsfaktor Her2 auf der Zelloberfläche. "Die Klasse vier ist die ungünstigste Gruppe. Sie hat weder Rezeptoren für Hormone noch für Wachstumsfaktoren auf der Oberfläche. Diese Krebszellen sind wie Stammzellen, die sich in alle Richtungen teilen. Bei einer Größe von nur zwei bis drei Millimetern können sie schon gestreut haben, weil sie sehr aggressiv sind", so der Brustkrebsspezialist.

Klasse eins und zwei machen rund 70 Prozent aller Brustkrebse aus, Klasse drei 15 bis 20 Prozent und Klasse vier knapp zehn Prozent. Danach, welcher Klasse ein Brustkrebs zugeordnet wird, richtet sich auch die Therapie.

"Bei Tumoren der Klasse eins erhalten die Frauen keine Chemotherapie, und dies aktuell auch oft nicht, wenn ein bis zwei Lymphknoten befallen sind. Das war noch vor zwei bis drei Jahren völlig anders", sagt Lindner. Klasse zwei wird mit einer Antihormontherapie und einer Chemotherapie behandelt, weil der Tumor so schnell wächst. Denn mit der Wachstumsgeschwindigkeit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich Tochtergeschwülste (Metastasen) bilden. Der große Nutzen der Antihormontherapie ist in Studien belegt. Danach konnte bei Frauen, deren Brustkrebs Hormonrezeptoren besaß, in einem Zeitraum von 15 Jahren eine Senkung der Sterblichkeit um ein Drittel erreicht werden, sagt Lindner.

Auch bei der Klasse drei hat ein Antikörper die Heilungs- und Überlebenschancen deutlich verbessert. Frauen mit diesen Tumoren wird eine Chemotherapie zusammen mit einem Antikörper gegeben, der sich gegen den Wachstumsfaktor-Rezeptor Her2 auf der Zelloberfläche richtet: das Medikament Trastuzumab. "Durch diese Möglichkeit der Therapie hat sich die Prognose bei diesen besonders aggressiven Tumoren deutlich verbessert", so der Brustkrebsspezialist. Tumoren der Klasse vier sprechen zwar gut auf eine Chemotherapie an, es gibt aber eine hohe Rückfallrate in den ersten Jahren nach der Diagnose.

Insgesamt hat sich die Rate der Brustkrebspatientinnen, die fünf Jahre nach der ersten Diagnose noch leben, dank verbesserter Früherkennung und neuer Therapien erheblich erhöht. 1989 lag diese Rate noch bei 69 Prozent und ist bis heute auf mehr als 80 Prozent gestiegen.

"Wenn jetzt, wie in der neuen Studie, bestimmte genetische Veränderungen gelistet werden, wird man sich diese ganz genau anschauen", sagt Lindner. Und man werde versuchen, zielgerichtete Medikamente wie zum Beispiel Antikörper gegen vorliegende Mutationen zu entwickeln. "Ähnlich wie beim Her2 wird in absehbarer Zeit eine ganze Pipeline neuer Medikamente entstehen, auch wenn es einige Jahre dauern wird, bis diese für die Behandlung zur Verfügung stehen", ist der Mediziner sicher. Je mehr Informationen man über die Eigenschaft des Tumors habe, desto mehr Möglichkeiten gebe es, neue Therapien zu entwickeln.

"Vorstellbar für die Zukunft ist, dass man eine Tumorprobe in eine Dechiffriermaschine gibt und dann ein genetisches Profil erhält. Irgendwann könnte es so sein, dass jede Frau mit Brustkrebs eine individuelle Therapie erhält, die speziell auf ihre Brustkrebsform zugeschnitten ist", sagt Lindner. Genetische Informationen könnten in Zukunft wahrscheinlich wichtiger werden als die Organzugehörigkeit des Krebses, sodass dann die Art der genetischen Veränderungen über die Auswahl des Medikamentes entscheide und nicht, ob es sich um Brust- oder etwa um Darmkrebs handelt.

Ein wichtiges Ergebnis der aktuellen Studie ist auch, dass manche Brustkrebse der Klasse vier in ihrer genetischen Struktur einem Eierstockkrebs ähnlicher sind als anderen Brustkrebstypen. Lindner: "Beim Eierstockkrebs wird seit Jahren eine Chemotherapie angewendet, zu der auch Platinverbindungen gehören - Mittel, die früher bei Brustkrebs nicht eingesetzt wurden. Die neuen Ergebnisse deuten darauf hin, dass dieses Medikament bei Brustkrebsformen der Klasse vier eine wichtige Rolle spielen könnte."

Wie zielgerichtete Therapien sich weiter verbessern lassen, zeigt auch die Studie eines internationalen Forscherteams, die jetzt im "New England Journal of Medicine" vorgestellt wurde. Die Wissenschaftler verknüpften den Antikörper Trastuzumab mit einem Zytostatikum (einer Substanz, die das Zellwachstum oder die Zellteilung hemmt) und behandelten damit Frauen mit fortgeschrittenem Brustkrebs. Der Antikörper band an die Zellen, und nur über diese Bindung gelangte das Medikament in die Krebszelle - und zerstörte diese. Zellen, die den Her2-Rezeptor nicht hatten, blieben von dem Zellgift verschont, sodass viele typische Nebenwirkungen einer herkömmlichen Chemotherapie seltener auftraten. "Damit wurde erstmals eine Chemotherapie durchgeführt, die nur die Krebszellen attackiert", sagt Lindner.