Das spektakuläre 200-Meter-Rennen bei den Paralympics sorgt für neue Diskussionen über “Techno-Doping“. Grundsätze des Sports infrage gestellt.

London. Noch im Halbfinale am Sonnabend war Oscar Pistorius in 21,30 Sekunden einen neuen Weltrekord gelaufen. Deshalb schien es sicher, dass der beidseitig unterschenkelamputierte Athlet bei den Paralympics in London auch das Finale über 200 Meter gewinnen würde. Und dann das: Zunächst deutlich in Führung liegend, wurde der Südafrikaner von dem Brasilianer Alan Oliveira überholt. Der hatte an vierter Stelle gelegen, aber auf den letzten 100 Metern einen erstaunlichen Sprint hingelegt und kam sieben Hundertstel schneller ins Ziel. "Das war unfair", sagte Pistorius. "Er kommt über Nacht mit Stelzen, die zehn Zentimeter zu hoch sind, und läuft solche Zeiten. So schnell war er bisher nicht einmal annähernd."

Betrogen hatte Oliveira allerdings nicht. Die Regeln des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) sehen vor, dass die Länge der Oberarme oder des Oberkörpers darüber entscheidet, wie groß ein Sprinter sein darf. Entsprechend lang dürfen die Prothesen sein. Diesen Spielraum nutzen einige Athleten, darunter Oliveira, voll aus; andere bleiben bei kürzeren Stelzen, weil sie damit besser zurechtkommen. Ob die Formel des IPC Sinn macht, ist in der Szene umstritten. "Ich habe das einmal an mir selbst probiert", erzählt Ralf Otto, ehemaliger Bundestrainer der behinderten Leichtathleten. Er ist nicht behindert. "Der Formel entsprechend dürfte ich 1, 86 Meter groß sein. Ich bin aber nur 1,73 Meter groß."

Der Fall sorgt für neue Diskussionen über das "Techno-Doping". Denn es stellt die Grundsätze des Sports infrage, wenn technische Vorteile über Sieg und Niederlage entscheiden und nicht die Leistung des Athleten. Das beginnt mit den Maßen der Carbon-Federn. "Je länger die Prothesen sind, desto besser ist das für den Läufer, weil er seine Schrittfrequenz verringern kann", sagt Prof. Gert-Peter Brüggemann, Leiter des Instituts für Biomechanik und Orthopädie an der Sporthochschule in Köln. Tatsächlich benötigte Oliveira für die 200 Meter 43 Schritte, Pistorius 46.

Neben der Länge der Carbon-Federn entschieden auch deren mechanische Eigenschaften über die Geschwindigkeit. "Wenn die Prothesen auf den Boden treffen, geht Energie verloren. Es macht einen Unterschied, ob das fünf oder 15 Prozent sind." Ob Oliveiras Stelzen in diesem Punkt den Regeln entsprachen, könne er nicht beurteilen. Der Forscher hatte 2007 untersucht, wie Pistorius mit Stelzen im Vergleich zu gleichschnellen gesunden Sprintern abschnitt. "Pistorius war beim schnellen Laufen klar im Vorteil, weil über seine Prothesen weniger Energie verloren ging als über die Sprunggelenke der Gesunden." Bis zu 40 Prozent der aufgebrachten Energie leiteten die Sprunggelenke gesunder Läufer ab, erheblich mehr als die Carbon-Federn. Durch diese Vorteile habe Pistorius bei den Tests für die gleiche Leistung weniger Energie und weniger Sauerstoff benötigt.

Danach entschied der internationale Leichtathletikverband damals, dass Pistorius nicht an Olympia 2008 in Peking teilnehmen dürfe. Der Internationale Sportgerichtshof hob die Entscheidung jedoch auf. Weil Pistorius die Norm für 400 Meter und für die Staffel verfehlte, konnte er dann nicht starten. Bei den Paralympics im gleichen Jahr hingegen trat er an und gewann über 100, 200 und 400 Meter.

In London war der Südafrikaner nun als erster Läufer mit zwei amputierten Unterschenkeln auch bei Olympia gestartet und kam über 400 Meter immerhin bis ins Halbfinale. Gegenüber den schnellsten Nichtbehinderten hatte er jedoch das Nachsehen. Das könnte sich ändern: Prinzipiell ließen sich Carbon-Prothesen so weit verbessern, dass behinderte Sprinter damit schneller laufen könnten als ihre nicht behinderten Konkurrenten, sagt Brüggemann. "Man kann sicher durch Veränderungen der Prothesen in der Länge und auch beim Material Geschwindigkeiten verändern", bestätigt Rüdiger Herzog, Sprecher beim Medizintechnik-Unternehmen Ottobock aus dem niedersächsischen Duderstadt. Er glaube aber nicht daran, dass Läufer mit Prothesen einmal schneller sein könnten. "Wenn Sie das Ergebnis von Pistorius beim 400-Meter-Halbfinale sehen, wird klar, dass da noch große Unterschiede zu den Läufern mit zwei gesunden Beinen sind." Die Prothesen seien am Start sehr schwierig zu handhaben. "Man kommt zunächst nur schwer in die Gänge. Je länger die Strecke, umso schneller können die Sportler werden." Geradeaus liefen die Sprinter mit den Carbon-Prothesen am besten, in Kurven hätten sie jedoch Schwierigkeiten. "Pistorius kann das vergleichsweise gut - wohl deshalb, weil er schon als kleines Kind mit Prothesen lief", sagt Herzog, der derzeit bei den Paralympics ist. Ottobock Healthcare hat dort etwa 80 Orthopädie-Techniker im Einsatz, um für 4200 Athleten den Reparaturservice sicherzustellen.

Schon die Ägypter der Pharaonenzeit entwickelten Prothesen als Ersatz für fehlende Körperteile. Deutsche Forscher haben etwa eine Großzeh-Prothese aus Holz bei einer weiblichen Mumie untersucht. Heutzutage arbeiten Biomechaniker an roboterartigen Prothesen, um behinderten Menschen natürliche Bewegungen zu ermöglichen. Bionik heißt das Forschungsgebiet, bei dem Wissenschaftler "Erfindungen" der Natur in Technik umsetzen.

Carbon-Federn wurden laut Herzog zum ersten Mal 1988 in Seoul eingesetzt. "Seither sieht man einen sprunghaften Leistungsanstieg in den Weltrekorden." Nur eine Frage von Hightech? Nein, sagt Herzog. "Sicherlich wurden die technischen Details verändert, der Leistungsanstieg liegt aber nicht nur daran, sondern auch an der Trainingsintensität der behinderten Sportler."

Ottobock entwickelt nicht nur Prothesen für Leistungssportler, sondern vor allem für den Alltag behinderter Menschen. Zuletzt stellte das Unternehmen in London eine Laufprothese für Amateure vor. "Man denkt immer, die Prothesen für Leistungssportler sind das Hightech-Produkt", sagt Herzog. Es sei aber viel anspruchsvoller, Prothesen für die Anforderungen des Alltags zu erstellen, wie verschiedene Geschwindigkeiten oder Treppensteigen. "Unsere Bionik-Experten sagen: Je mehr wir von der Natur verstehen, um es in unseren Prothesen einzusetzen, desto mehr wird klar: Wir können die Natur nicht nachbauen, sie ist immer einen Schritt besser als die Technik."