Wie Behindertensport und Paralympische Spiele die Gesellschaft verändern

Vanessa Low war 15, als ihr Leben von Neuem begann. In ihrer Heimatstadt Ratzeburg wurde sie von einem Zug überrollt und verlor beide Beine. Zwei Jahre hat sie gebraucht, um das Laufen wieder zu lernen. Inzwischen 22, startet sie morgen Abend vor 80 000 Menschen im Londoner Olympiastadion im Finale des 100-Meter-Laufs.

Wie immer das Rennen ausgehen mag: Low kann sich als Siegerin fühlen so wie alle 4200 Athleten dieser Paralympics. Jeder Einzelne von ihnen führt uns vor, dass es möglich ist, nach einem Schicksalsschlag wieder aufzustehen. Und wir spüren intuitiv, dass diese Leistung mindestens genauso wertvoll ist wie die Weltrekorde und Medaillen, die wir vor vier Wochen bei den Olympischen Spielen bestaunt haben.

Die Paralympics hätte es dafür eigentlich gar nicht gebraucht. Sieben Millionen Menschen in Deutschland sind offiziell als schwerbehindert eingestuft. Ihre Präsenz wird weiter zunehmen, weil die Bevölkerung immer älter und damit zwangsläufig gebrechlicher wird. Aber auch, weil die Behinderten immer selbstbewusster ihren Anteil am öffentlichen Leben einfordern. Langsam, aber unaufhaltsam rücken sie von den Rändern in die Mitte unserer Gesellschaft vor, besuchen Regelschulen, steuern Autos, nehmen am Arbeitsleben teil. Und sie zeigen uns nicht nur alle vier Jahre, zu welch außergewöhnlichen Dingen sie imstande sind. Wir müssen nur hinschauen.

Bei den Paralympics tun wir das ganz zwanglos. Allein die Eröffnungsfeier haben fast zwei Millionen deutsche Fernsehzuschauer gesehen. Im Gastgeberland Großbritannien sind die Einschaltquoten noch deutlich höher. Und die Veranstaltungen vor Ort sind fast durchweg ausverkauft. Die Wirtschaft hat die amputierten, blinden, gelähmten Athleten längst als populäre Werbebotschafter entdeckt.

Der technische Aufwand steht dem des olympischen Sports kaum noch nach. Die Entwicklung der Prothesen verläuft so schnell, dass es nur noch eine Frage der Zeit zu sein scheint, bis die ersten Athleten auf zwei Stelzen denen auf zwei Unterschenkeln davonlaufen. Spätestens dann wird sich die Frage stellen, ob olympischer und paralympischer Sport nicht eigentlich zusammengehören so wie es behinderte und nicht behinderte Menschen tun. Hier wie dort liegt wohl noch ein gutes, nicht barrierefreies Stück Weg vor uns.

Es gibt freilich triftige Gründe, auf die Eigenständigkeit der Paralympics zu pochen. Die Gefahr wäre groß, dass andernfalls die Behindertensportler - besser sollte es heißen: der behinderten Sportler - untergehen würden. Ihre Leistungen sind umso höher einzuschätzen, als sie zumindest in Deutschland weitgehend ohne staatliche Förderung zustande kommen. Auch deshalb können die paralympischen Athleten im Medaillenspiegel zumeist nicht mit den olympischen mithalten.

Für ein Land, das sich für eines der fortschrittlichsten und aufgeklärtesten der Welt hält, ist das kein sehr schmeichelhafter Befund. Denn auch wenn man hinterher mit Recht jeden als Gewinner feiern kann: Paralympics-Medaillen sagen auch etwas darüber aus, wie ernst es eine Gesellschaft mit Integration und Chancengleichheit meint.

Mehr als alles andere führen uns diese Sportler vor Augen, wie unterschiedlich wir Menschen doch beschaffen sind - und wie unbedeutend gleichzeitig diese Unterschiede doch werden können. Jedem von uns sind physische Grenzen gesetzt, aber im Geist, im Miteinander können wir sie überwinden. Mit dieser Botschaft haben die Paralympics das Versprechen von "Erleuchtung und Aufklärung", das sie bei der Eröffnungsfeier am vergangenen Mittwoch abgegeben haben, schon jetzt eingelöst.