Fernbleiben vom Unterricht kann verschiedene Ursachen haben. Prof. Michael Schulte-Markwort behandelt Schulphobie in Hamburg.

Hamburg. Die Zahl der Schulschwänzer in Hamburg steigt. Im ersten Quartal 2012 gab es 416 Fälle von Schulpflichtverletzungen in der Hansestadt. Wenn Kinder nicht zur Schule gehen, sprechen Wissenschaftler von "Schulabsentismus". Mit dem Begriff werden jedoch nicht nur diejenigen erfasst, die keine Lust auf Schule haben. Sondern auch diejenigen, die durch Schule oder Elternhaus krank werden. Das Abendblatt sprach mit Prof. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychosomatik am UKE und Altonaer Kinderkrankenhaus.

Hamburger Abendblatt:

Wie differenzieren Sie den Begriff Schulabsentismus?

Michael Schulte-Markwort:

Wir unterscheiden die Schulphobie von der Schulangst. Und das Ganze vom Schulschwänzen. Schulphobie ist eine Krankheit, hinter der sich Trennungsangst verbirgt. Unter Schulangst leiden Kinder, die aus nachvollziehbaren Gründen nicht zur Schule gehen - etwa weil sie von Klassenkameraden gemobbt werden oder Angst vor ihren Lehrern haben oder kognitiv überfordert sind. Die dritte Gruppe sind die Schulschwänzer, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammen, aggressiv sind und einfach nicht zur Schule kommen.

Welchen Anteil haben die Gruppen?

Schulte-Markwort:

Es gibt kaum verlässliche Zahlen. Schulschwänzen ist mit zwei bis vier Prozent aller Schüler in Deutschland doppelt so häufig wie Schulphobie, die wiederum etwa doppelt so oft vorkommt wie Schulangst.

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Sie befassen sich mit Schulphobien. Welche Symptome gibt es?

Schulte-Markwort:

Die Kinder können sich nicht von zu Hause trennen. Sie klammern sich an ihre Eltern - weil sie Angst davor haben, diesen könnte etwas Schreckliches passieren, wenn sie in der Schule sind. Trennungsängste haben in der Regel nichts mit Dingen zu tun, die an der Schule vorgefallen sind. Trennungsangst ist eine Unterkategorie der Angststörungen. Die Ängste der Schüler verschieben sich, sodass sie nicht zur Schule gehen.

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Wie äußern sich diese Phobien konkret?

Schulte-Markwort:

Am Morgen vor Unterrichtsbeginn bekommen die Kinder Kopf- und Bauchschmerzen, ihnen wird schwindelig oder übel bis hin zum Erbrechen. Wenn Eltern ihre Kinder zur Schule eskortieren und sie zwingen, in das Schulgebäude zu gehen, kommt es schon mal vor, dass Kinder die Schule durch den Hinterausgang wieder verlassen und zurück nach Hause laufen.

Beschreiben Sie doch einmal Ihren klassischen Patienten.

Schulte-Markwort:

Die typische Schulphobikerin ist weiblich, jenseits des zehnten Lebensjahrs und stammt aus völlig normalen Verhältnissen. Auch in der Schule gab es bis zum Ausbruch der Krankheit keine Probleme.

Was löst dann die Krankheit aus?

Schulte-Markwort:

Manchmal gibt es Streit in der Familie - oder andere belastende Ereignisse. Manchmal sind es auch körperliche Krankheiten, die Schulphobien auslösen: Ein Kind hat Grippe, muss lange zu Hause bleiben, die Schwelle zurück in die Schule wird immer höher. Wir müssen schnell eingreifen, weil die Fälle eine hohe Eigendynamik entwickeln.

Wie viele Patienten haben Sie im Jahr?

Schulte-Markwort:

Unsere allgemeine Ambulanz sieht bis zu 50 Kinder. Stationär behandeln wir etwa 20 Kinder. Wir kennen die Dunkelziffer nicht, könnten aber noch viel mehr Kinder annehmen.

Wie behandeln Sie die Kinder?

Schulte-Markwort:

Manche Kinder können wir ambulant behandeln, andere müssen in die Klinik eingewiesen werden. Bei manchen Kindern bringen Entspannungsübungen viel: Die Kinder setzen sich hin, schließen die Augen, machen im Geiste eine Reise durch den eigenen Körper, stellen sich vor, in ihre Beine und Arme hineinzuwandern, fühlen sich sicher dadurch, ihre Angst nimmt ab. Ein elfjähriger Junge, der früher vor Unterrichtsbeginn morgens regelmäßig erbrach, ging schnell wieder zur Schule, nachdem er von uns dieses autogene Training gelernt hatte.

Was ist mit den schweren Fällen?

Schulte-Markwort:

Diese Fälle müssen stationär behandelt werden - und sich von ihren Eltern trennen. Wir mussten zum Beispiel einmal ein zwölfjähriges Mädchen aus dem Auto seiner Mutter holen. Wir Ärzte haben uns gefühlt wie Kerkermeister. Kommen die Kinder zu uns in die Klinik, können psychotherapeutische Ärzte oder Psychologen ihnen helfen, indem sie sich gemeinsam langsam der Schule wieder annähern. Unsere Mitarbeiter gehen erst mit in die Schulklasse, am nächsten Tag noch ins Schulgebäude, bis die Kinder wieder alleine in die Schule gehen können. Zur Unterstützung haben wir sowohl am UKE als auch in Altona eine Klinikschule mit insgesamt zwölf Lehrern. Tiefenpsychologisch orientierte Kollegen können die Konflikte des Kindes aufdecken - es gibt auch eine Familienberatung und Familientherapie.

Welche Rolle spielen die Eltern?

Schulte-Markwort:

Eltern, die überängstlich sind, machen die Krankheit schlimmer. Meistens schämen sich die Eltern, mit ihrem Kind zu einem Kinderpsychiater zu gehen. Dabei könnten sie ihrem Kind dadurch in vielen Fällen die Einweisung in die Klinik ersparen.

Worauf sollten Eltern achten?

Schulte-Markwort:

Eltern sollten die Ängste ihrer Kinder ernst nehmen. Sie sollten auf Symptome achten wie Kopf- und Bauchschmerzen und Übelkeit. Und immer dann, wenn sie das Gefühl haben, dass mehr dahintersteckt als ein nervöses Flattern vorm Unterricht, sollten sie einen Experten aufsuchen.

Werden die Kranken unter den schulschwänzenden Schülern von den Lehrern identifiziert?

Schulte-Markwort:

Leider häufig nicht. Lehrer wissen zu wenig über psychische Erkrankungen Bescheid. Die wichtigsten Krankheitsbilder müssten im Lehramtsstudium behandelt werden - und danach noch mehr in Fortbildungen vertieft werden.

Die Schulbehörde greift bei Schwänzern verstärkt zu drastischen Mitteln wie Bußgeld oder Jugendarrest. Was halten Sie davon?

Schulte-Markwort:

Generell finde ich es gut, dass die Lehrer aufgefordert werden, Schulschwänzer schneller zu melden. Jedoch: Wenn ein trennungsängstliches Kind mit Bußgeld belegt wird, ist das kontraproduktiv. Ich wünsche mir, dass mehr Diagnostik betrieben wird. Denn jeder Tag, den ein Kind mit Schulphobie nicht zur Schule geht, verstärkt die Phobie.