Die Bestände der Säugetiere an der Nordseeküste haben in diesem Sommer teilweise ein Niveau erreicht, das es zuletzt vor 100 Jahren gab.

Oldenburg/Büsum. Zwei kugelrunde Köpfe tauchen aus dem Wasser auf, und zwei Paar schwarze Kulleraugen mustern neugierig die vorbeigleitenden Schiffspassagiere - eine Begegnung mit Seehunden lässt die Herzen der Wattenmeertouristen höher schlagen. Und es werden immer mehr Seehundköpfe: Schleswig-Holstein und Niedersachsen registrierten in diesem Sommer Rekorde bei ihren routinemäßigen Zählflügen. Fazit der Experten: Die Nahrungsgrundlage und die Lebensräume der Seehunde sind intakt.

Die meisten Seehunde leben im schleswig-holsteinischen Wattenmeer. Dort ergab ein Zählflug im Juni den Rekordwert von 10 941 Tieren. Zu dieser Zeit werden die Jungen geboren; die meisten Tiere halten sich an der flachen Küste auf. Seit Jahren weist der Trend nach oben, doch nun hätten die Bestände eine "natürliche Größenordnung erreicht, wie sie für die Zeit vor 100 Jahren angenommen werden", sagt Umweltministerin Juliane Rumpf (CDU).

Vier bis fünf Zählungen werden jeden Sommer nahezu parallel in Schleswig-Holstein, Niedersachsen/Hamburg, den Niederlanden und Dänemark absolviert, immer bei Niedrigwasser, wenn die Tiere sich auf Sandbänken ausruhen. Auch Niedersachsen meldet einen Rekord: 7416 Tiere - noch nie seit Beginn der Zählungen im Jahr 1958 wurden mehr Seehunde erfasst. Die Zahlen aus Dänemark und den Niederlanden liegen noch nicht vor. Das Hamburger Gebiet wird zusammen mit Niedersachsen erfasst. Hier aalen sich zu Spitzenzeiten 500 bis 600 Tiere auf den Sänden, sagt Peter Körber von der Nationalparkverwaltung Hamburgisches Wattenmeer in der Umweltbehörde.

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"Offensichtlich ist im Watt genügend Nahrung vorhanden", sagt Josef Huesmann, der im niedersächsischen Landesamt für Verbraucherschutz für die Robben zuständig ist. "Ein gutes Nahrungsangebot führt zu einer hohen Geburtenrate und ist der entscheidende Faktor für einen Bestandszuwachs."

Dass die Robben mit dem lateinischen Namen Phoca vitulina in der als überfischt geltenden Nordsee mit vollen Mägen zu ihren Sandbänken zurückkehren, liegt daran, dass sie geschmacklich nicht wählerisch sind. Sie schnappen sich alles, was sie fangen können, seien es Krustentiere, Kalmare, Plattfische oder die kleinen Grundeln und Sandaale. Die Qualität der Nahrung sei besser geworden, so Huesmann: "In den 1960er- und 1970er-Jahren war die Nordsee deutlich stärker verschmutzt als heute. Schadstoffe reichern sich über die Nahrungskette an. Am Ende dieser Kette stehen die Seehunde, die damals von Verschmutzungen stärker betroffen waren."

Allerdings seien die Seehunde auch heute noch mit Schadstoffen belastet, ergänzt sein Schleswig-Holsteiner Kollege Dr. Thomas Borchardt. Auch eine Wiederkehr der Staupe, die 1988 und 2002 jeweils etwa die Hälfte des Bestandes ausgelöscht hatte, sei möglich: "Blutanalysen an lebenden Tieren haben gezeigt, dass nur 20 Prozent des Bestandes Antikörper tragen und damit gegen das Virus immun sind."

Immerhin hatten sich die dezimierten Bestände jeweils innerhalb weniger Jahre erholt. Dazu trug bei, dass die Seehunde in den jüngsten Jahrzehnten weniger stark durch Menschen gestört wurden. Die Jagd auf die Tiere wurde in den 1970er-Jahren im gesamten Wattenmeer eingestellt. Etwa zeitgleich entstanden an der holländischen, deutschen und dänischen Wattenmeerküste Seehundschutzgebiete, um die Robben vor aufdringlichen "Naturfreunden" zu schützen. Denn die Tiere brauchen die Ruhephasen auf den Sandbänken, um bei Niedrigwasser ihre Jungen zu säugen und selbst Kraft zu tanken. Werden sie aufgescheucht, kostet das Energie. Zudem kann das Robben über den Strand zu Verletzungen führen, weil der Sand bei den recht unbeholfenen Bewegungen auf die schweren Körper wie ein Reibeisen wirkt.

Die Seehunde hatten durch die starke Bejagung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelernt, den Menschen als ihren Hauptfeind anzusehen und halten bis heute große Fluchtdistanzen ein. Umso wichtiger waren und sind Betretungsverbote etwa für Sandbänke und andere Schutzzonen, die durch die Nationalparkverordnungen der drei deutschen Bundesländer in den 1980er-Jahren gestärkt wurden.

Noch heute sind die Tiere sehr scheu. Sie meiden zum Beispiel Sandbänke, die häufig von Surfern und Sportbooten passiert werden. Peter Körber von der Hamburger Umweltbehörde erlebt aber auch Annäherungsversuche: "Wenn wir bei Niedrigwasser bei Gruppenführungen am Neuwerker Deich stehen und die Seehunde auf der Sandbank jenseits des Neuwerkfahrwassers beobachten, dann trauen sich einige Tiere schon mal ins Wasser und kommen, um zu schauen, wer sie da anschaut. Im Wasser fühlen sie sich sicher, da siegt dann die Neugier." Und die Touristen können sich über die kleinen runden Köpfe mit den Kulleraugen freuen.