Anton verliebt sich in Claudia aus Hamburg, sie soll die Richtige sein. Sie ist jedoch eine von immer mehr Deutschen mit psychischen Krankheiten.

Der Fall aus dem siebten Himmel geschah völlig unerwartet und der Aufprall tat weh: Anton C., 38 Jahre alt, Inhaber einer Münchner Werbeagentur, glaubte nach seiner gescheiterten Ehe in der fünf Jahre jüngeren Claudia F. die neue Liebe seines Lebens gefunden zu haben. Zwar wusste er, dass die attraktive Frau bis dahin ihr Leben nicht richtig auf die Reihe gekriegt hatte, denn Claudia F., neben drei Brüdern einzige Tochter einer wohlhabenden Hamburger Familie, hatte schon als Schülerin Erfahrungen mit harten Drogen gemacht, mehrere Studiengänge abgebrochen, sich dann als Kellnerin durchgeschlagen und war schließlich mit einer kleinen Kunstgalerie finanziell baden gegangen.

Auch hatte sie viele, meist sehr kurze Beziehungen hinter sich, "aber die Schilderungen ihrer wilden Vergangenheit klangen glaubhaft und weckten auch mein Mitgefühl", sagt Anton C.. "Sie erzählte, dass sie von ihren Eltern kalt behandelt worden sei. Ich war daher überzeugt, dass Claudia auf ihrer Suche nach Liebe und Geborgenheit immer diejenige gewesen war, die von den Männern hintergangen und ausgenutzt wurde. Auch ihre Begründung für ihr geschäftliches Scheitern klang überzeugend und außerdem wollte ich ja mit ihr gemeinsam in die Zukunft schauen."

Seit 1998 hat sich die Zahl der psychischen Erkrankungen in Deutschland verdoppelt. Persönlichkeitsstörungen wie das Borderline-Syndrom treten dabei immer häufiger auf. Dabei handelt es sich um eine der schwerwiegendsten seelischen Erkrankungen, die überdies schwer zu diagnostizieren ist. Denn oft verbirgt sich das Syndrom hinter Depressionen, die inzwischen eine gesellschaftlich akzeptierte Volkskrankheit sind. Für den Anstieg machen Krankenkassen wie TK und DAK vor allem den zunehmenden Zeit- und Leistungsdruck verantwortlich.

Aber nicht nur die Patienten selbst, sondern auch ihre Angehörigen, Partner und Kollegen leiden unter dieser seelischen Krankheit, die oft mit einer Wesensveränderung einhergeht. Was diese Belastung bedeutet, wird häufig verschwiegen. Auch Anton C. konnte erst über seine Beziehung zu Claudia sprechen, als sie vorbei war.

Ein halbes Jahr, nachdem sie sich kennengelernt hatten, zog sie bei ihm ein, schon drei Monate später redeten sie vom Heiraten. "Für mich war es in jeder Hinsicht die perfekte Beziehung", erinnert sich Anton C., "doch heute weiß ich, Claudia war gar nicht in der Lage, zu lieben." Von einem auf den anderen Tag sei es zu einem dramatischen Stimmungsumschwung gekommen. Wutattacken und Eifersuchtsszenen wechselten sich tageweise ab, später verschwand Claudia F. öfter mal für 24 Stunden oder Tage spurlos, tauchte dann unvermittelt in der Werbeagentur auf, um sich tränenreich bei ihm zu entschuldigen. "Sie sagte dann, sie sei bei ihrer Freundin Ingrit gewesen - der einzige Mensch, der sie verstehen könne." Eine "Ingrit" aber sollte Anton C. niemals zu Gesicht bekommen.

Ein paar Wochen später entdeckte er, dass Claudia sich alle seine Passwörter fürs Internet-Banking, das Intranet seiner Werbeagentur und seine sozialen Netzwerke besorgt hatte. Außerdem hatte sie sich durch all seine privaten Unterlagen gewühlt, während er in der Agentur gewesen war. "Als ich Claudia darauf ansprach, beschuldigte sie mich absurderweise, dass ich ihr hinterherspionieren würde." Erst jetzt merkte Anton C., dass mit seiner Freundin etwas nicht stimmen konnte, aber er war bereit, zu verzeihen. "Schließlich war sie eine faszinierende Frau, die ich liebte. Ich war mir sicher, dass ich ihre Verdachtsmomente zerstreuen könnte, indem ich noch mehr auf ihre Wünsche einging. Damit wollte ich ihr ganz einfach nur helfen."

Noch wusste Anton C. nicht, dass Claudia F. am Borderline-Syndrom litt. Sie hatte ihm verschwiegen, dass sie bereits zwei Therapien abgebrochen hatte. Und dass sie bereits zweimal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen.

Nach neuesten Erkenntnissen verschwimmen die Grenzen zwischen den bisher bekannten Persönlichkeitsstörungen. "Dies liegt daran, dass wir inzwischen sehr viel differenziertere Diagnosen stellen können", sagt der Hamburger Psychiater Dr. Birger Dulz, 58 Jahre, Chefarzt der Fachabteilung für Persönlichkeitsstörungen in der Asklepios-Klinik Nord in Ochsenzoll. "Wir stellen immer häufiger fest, dass praktisch kein Betroffener jeweils nur eine einzige Störung aufweist, sondern dass es zwischen Soziopathen, Narzissten oder Borderlinern eine Vielzahl von Überschneidungen in den signifikanten Verhaltensmustern gibt."

Daher hat sich seit einiger Zeit der übergeordnete Begriff der "Antisozialen Persönlichkeitsstörung" (APS) durchgesetzt. Die am häufigsten vorkommenden Symptome sind eine enorme Wandlungsfähigkeit, pathologisches Lügen sowie fehlendes Mitgefühl und Reue. Antisoziale Menschen sind zumeist sehr impulsiv, gelten sogar als "gerissen" und sind häufig nicht in der Lage, aus Fehlern zu lernen. Das APS-Syndrom ist durch die Missachtung sozialer Verpflichtungen gekennzeichnet. Oft weisen die Erkrankten auch eine geringe Frustrationstoleranz sowie eine niedrige Schwelle für aggressives und gewalttätiges Verhalten auf. Sie sind in der Regel zwar bindungsunfähig, aber dennoch in der Lage, ständig neue Beziehungen einzugehen. "Wir beobachten, dass die Zahl der Betroffenen in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat", sagt Dulz, in dessen Abteilung fünf verschiedenen Stationen mit insgesamt 115 Betten für eine stationäre Behandlung und 38 teilstationäre Therapieplätze zur Verfügung stehen. Die durchschnittliche Wartezeit für Patienten beträgt dennoch zurzeit drei bis sechs Monate.

Als eine der Hauptursachen für diese Form von Erkrankungen werden "frühkindliche Bindungsstörungen" angesehen. Das Borderline-Syndrom wird zumeist durch Verlustängste, vielfach aber auch durch sexuellen Missbrauch oder körperliche Misshandlung ausgelöst. Etwa drei Viertel aller Betroffenen sind Frauen. Die Mehrzahl wächst ohne Vater auf, die Familien nehmen sich zu wenig Zeit für die Kinder, die sich zwangsläufig abgeschoben und wertlos vorkommen müssen und jahrelang darunter leiden.

Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung wuchsen häufig unter enormem Leistungsdrucks heran und wurden dazu animiert, die eigenen Fähigkeiten ohne Rücksicht auf andere nach außen hin gut darzustellen.

Bei Patienten mit klassischen APS-Symptomen vermutet man dagegen inzwischen auch biopsychologische Gründe für die Erkrankung, denn die Betroffenen weisen überproportional oft einen erhöhten Anteil langsamer Gehirnwellen (Alpha-Wellen) auf. Darüber hinaus besitzen sie stärkere Hautwiderstände sowie eine geringere zentral- und periphernervöse Erregung. Das "antisoziale Verhaltensmuster" könnte daher Ausdruck ihrer Suche nach Aufregung sein, um die Aktivität im zentralen und vegetativen Nervensystem zu stimulieren.

Doch die Komplexität des menschlichen Geistes ist noch längst nicht genügend erforscht. Namhafte Wissenschaftler sprechen offen aus, dass man eigentlich erst am "Anfang der Erkenntnis" (der amerikanische Psychiater Jerold J. Kreisman, einer der Pioniere der Borderline-Forschung) stehe. Dadurch sei auch das gesellschaftliche Verständnis für diese Erkrankungen noch immer zu gering, was sich am Fehlen ausreichender öffentlicher Gelder für eine flächendeckende psychiatrische Versorgung widerspiegeln würde. Während die Zahl der Patienten wachsen würde, nehme die Zahl der Einrichtungen ab. Dabei seien die Folgekosten, die sich aus den unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten ergeben, enorm.

"Unsere Arbeit besteht in erster Linie erst einmal darin, dass wir die Patienten so weit stabilisieren, dass sie draußen eine ambulante Therapie fortführen können", sagt Dr. Dulz. Das Problem sei jedoch, dass viele Patienten nur schwer zu behandeln seien, weil sie als unzuverlässige Patienten gelten würden und oft nicht akzeptierten, dass sie krank sind. Wenn sie sich aber letztendlich auf eine Therapie einließen, dann seien gerade Borderline-Patienten recht gut behandelbar, jedenfalls von Therapeuten, die in einem der spezifischen Therapieverfahren ausgebildet sind. "Deren Wirksamkeiten sind deutlich höher als eine unspezifische Behandlung, wie sie leider noch zu oft stattfindet", so Dulz. "Außerdem beobachten wir, dass etwa die Hälfte derjenigen, die durch eine antisoziale Persönlichkeit geschädigt wurden, später selbst das Krankheitsbild entwickelt."

Anton C. fühlte sich zunächst als Opfer, sah seine Liebe und Zuneigung missbraucht: Es dauerte noch länger als ein Jahr, bis er einsah, dass all seine Bemühungen, Claudia F. aus ihrem inneren Gefängnis zu befreien, scheitern würden. Im Alltag bedeutete dies ein ständiges Wechselbad der Gefühle, Liebesbeteuerungen und Demütigungen wechselten sich ständig ab. "Einmal arbeitete ich nicht effizient genug, dann arbeitete ich zu viel. Sie wusste alles besser, verschloss sich meinen Argumenten und strafte mich dann oft tagelang mit Verachtung. Dann war sie plötzlich wieder freundlich und liebevoll, sodass ich Hoffnung schöpfen konnte. Eines Morgens erzählte sie mir dann jedoch in beiläufigem Ton, dass sie mit einem anderen Mann schon seit Längerem regelmäßig ins Bett gehen würde - nachdem wir miteinander geschlafen hatten."

Irgendwann hatte Anton C. keine Kraft mehr, ihren Eskapaden und Demütigungen etwas entgegenzusetzen. "All meine Gedanken drehten sich nur noch um sie. Meine Konzentration ließ nach, bei meiner Arbeit verlor ich den Überblick. Doch ganz egal, was ich sagte, Claudia explodierte sofort. Ich fühlte mich wie in einem Minenfeld." Ein Minenfeld, aus dem es letztendlich nur einen Ausgang geben konnte: die Trennung. Anton C. zog aus seiner eigenen Wohnung zu einem Freund und gab ihr vier Wochen Zeit, sich um eine neue Bleibe zu kümmern. Daraufhin begann Claudia F., seine Firma und seine neue Adresse zu observieren, verschickte kompromittierende Anschuldigungen an Geschäftspartner, betrieb Telefon-, E-Mail- und SMS-Stalking. Schließlich zeigte sie ihn wegen Nötigung, Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Vergewaltigung an. Die polizeilichen Ermittlungen fielen jedoch zusammen wie ein Kartenhaus. Jetzt sollte ein psychiatrischer Gutachter eingeschaltet werden. Anton C. nahm außerdem Kontakt zu ihren Eltern auf. Darauf hin unternahm Claudia F. ihren dritten Suizidversuch, den sie ihm jedoch telefonisch ankündigte: Anton C. fand sie rechtzeitig mit aufgeschnittenen Pulsadern in seiner Wohnung.

Claudia F. wurde im Oktober 2010 in die Psychiatrie nach München-Haar eingewiesen. Seitdem schreibt sie ihm regelmäßig Briefe, die er jedoch ungeöffnet wegwirft. "Inzwischen weiß ich, dass mir nur eine strikte Kontaktsperre helfen kann, das Unbegreifliche zu verarbeiten", sagt Anton C., der inzwischen selbst psychologische Hilfe in Anspruch nimmt, um sein Trauma zu überwinden. "Als Erstes musste ich begreifen lernen, dass ich der Treibstoff bin, der ihren Motor erst zum Laufen bringt."

Doch können kranke Menschen wie Claudia F. wirklich "Täter" sein?

Als "Sabine W.", Klägerin und Kronzeugin im Kachelmann-Prozess, ihr Gesicht hinter dem Buch "Der Soziopath von nebenan - Die Skrupellosen: ihre Lügen, Taktiken und Tricks" der amerikanischen Psychologin Martha Stout medienwirksam versteckte, verhalf sie dem vier Jahre alten Werk aus dem Wissenschaftsverlag SpringerWienNewYork zu einer ungeahnten Neuauflage - und gab der natürlichen Antipathie gegen persönlichkeitsgestörte Zeitgenossen neue Nahrung. "Soziopathen kennen keine Reue, kein Gewissen und können keine Verantwortung übernehmen; weder für andere noch für Dinge noch für sich selbst", sagt Martha Stout, "ihre guten Eigenschaften sind rein oberflächlicher Natur und es geht ihnen einzig und allein um die Zerstörung derjenigen, die sich von ihnen haben blenden lassen." Das Lügen gehöre eben zum Lebensstil dieser "dissozialen" Persönlichkeiten.

Auch die französische Psychiaterin Marie-France Hirigoyen, die mit "Die Masken der Niedertracht - Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann" einen Bestseller schrieb, hat sich auf die klare Täter-Opfer-Definition festgelegt. Sie beschreibt die Angehörigen (oder "Geschädigten") der antisozialen Persönlichkeiten als deren bedauernswerten "Stellvertreter" oder "Spiegelbilder" fürs eigene Scheitern und die Unfähigkeit, lieben zu können.

Leben wir im Bewusstsein von rund zehn Millionen psychisch Kranken in Deutschland bereits in einer "Borderline-Gesellschaft"? Spiegelt das "bruchstückhafte Gefühl der Borderline-Persönlichkeit von Identität und Stabilität" (Jerold J. Kreisman) möglicherweise die Zerschlagung beständiger Werte in unserer Gesellschaft wider? Birger Dulz geht anhand seiner Patientenzahlen davon aus, dass die Zahl der Persönlichkeitsstörungen im Gegensatz zu Psychosen, Depressionen und Suchtkrankheiten weiter zunehmen wird, deren Fallzahlen in den vergangenen Jahren relativ konstant geblieben sind.