Weniger “Schaufensterforschung“, mehr akademische Kultur am UKE wünscht sich die scheidende Professorin Ulrike Beisiegel

Hamburg. Nach 26 Jahren verlässt Prof. Ulrike Beisiegel das Universitätsklinikum Eppendorf und ist nun Präsidentin der Uni Göttingen. Seit vier Jahren berät sie die Bundesregierung als Mitglied im Wissenschaftsbeirat.

Hamburger Abendblatt:

Frau Beisiegel, gehen Sie mit einem lachenden oder einem weinenden Auge aus dem UKE?

Ulrike Beisiegel:

Ich gehe mit einem lachenden Auge, weil ich länger als ein Vierteljahrhundert sehr gute wissenschaftliche Arbeit in Hamburg machen konnte und jetzt eine spannende Aufgabe in Göttingen übernehme. Und das weinende Auge bezieht sich auf mein Institut und mein tolles Team. Die haben aber zum Glück großes Verständnis für meinen Schritt nach Göttingen. Es ist kein trauriger Abschied vom UKE.

Warum nicht?

Beisiegel:

Weil die Universitätsklinik sich zu einem Unternehmen entwickelt hat, das nicht mehr den ausreichenden Grad an akademischer Atmosphäre hat und in dem die Forschung nicht mehr angemessen gefördert wird. Es gibt einen starken Trend zu einer Art "Schaufensterforschung". Das betrifft im Übrigen nicht nur das UKE, das ist ein allgemeiner Trend in der Wissenschaft.

Was heißt "Schaufensterforschung"?

Beisiegel:

Alles, was "trendy" ist und wirtschaftlichen Gewinn verspricht. Was man also gut "verkaufen" kann, was aber wenig mit solider Forschungsarbeit zu tun hat. Das sehe ich gerade auch mit den Augen einer Ombudsperson, die sich besonders mit der Redlichkeit in der Forschung beschäftigt und seit vier Jahren die Bundesregierung als Mitglied im Wissenschaftsbeirat berät.

Woran machen Sie eine fehlende akademische Atmosphäre fest?

Beisiegel:

Es geht nicht mehr um die Inhalte, sondern um das Renommee. Wenn Sie früher mit einem Kollegen über ein Projekt gesprochen haben, hat er beispielsweise gesagt: "Mensch, ich habe gerade eine Bewilligung für die Erforschung bestimmter Prozesse im Körper bekommen." Da wurde also über Inhalte gesprochen. Heute heißt es meist, man habe wieder eine Million Euro gekriegt. Wofür, das interessiert eigentlich kaum noch jemanden. Es geht immer seltener um Inhalte, immer öfter nur noch ums Geld.

Betrifft das auch die wissenschaftlichen Veröffentlichungen?

Beisiegel:

Ja. Die Diskussionen beziehen sich dabei meist nur noch darauf, wo jemand gerade etwas veröffentlicht hat. Der Inhalt der Veröffentlichung verkommt zur Nebensache. Deshalb hat die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG) jetzt die Initiative "Qualität statt Quantität" ins Leben gerufen, damit die jungen Wissenschaftler nicht mehr nur an der Zahl der Veröffentlichungen gemessen werden.

Wo erfährt Forschung am UKE zu wenig Unterstützung?

Beisiegel:

Es geht nicht mehr um den besonderen Bedarf des einzelnen Wissenschaftlers für seine Forschung, sondern um die möglichst kostengünstige Führung des Unternehmens durch vereinheitlichte Prozesse. Dabei ist der für die Forschung notwendige Freiraum nicht mehr gegeben. Vielleicht kann man bei Unternehmen, in denen es standardisierte Prozesse gibt, einem Mitarbeiter den Apple-Computer verweigern, an einer Universität sollten jedoch individuelle Lösungen unterstützt werden, um kreative Forschung zu ermöglichen. An Universitäten bei Forschung zu sparen und zu uniformieren ist ein Fehler, der jedoch nicht nur am UKE gemacht wird.

Kann man sich diesem Trend als junger Wissenschaftler überhaupt entziehen?

Beisiegel:

Das ist ganz schwierig. Junge Leute sagen oft: "Wenn wir nicht 'mitspielen', schadet das unserer Karriere." Ich bin mir aber mit vielen erfahrenen Kolleginnen und Kollegen aus dem Wissenschaftsrat und der DFG darüber einig, dass wir diese Fehlentwicklung in der Wissenschaft stoppen müssen.

Was heißt das für Ihren neuen Posten als Präsidentin der Uni Göttingen?

Beisiegel:

Ich werde dort nachdrücklich versuchen, gegen diesen Trend zu steuern. Und die Kollegen in Göttingen sind in der Mehrzahl davon begeistert, weil sie sagen: ,Wir brauchen diese Entschleunigung, denn so wie zurzeit wollen wir nicht mehr weiter arbeiten.'

Wie denn stattdessen?

Beisiegel:

Wir müssen weg von der Unternehmenskultur zurück zu einer akademischen Kultur. Die Administration muss die Wissenschaftler unterstützen, muss sie ent- und nicht belasten. Sie sollte zum Beispiel nicht aus reinem Selbstzweck Formulare entwickeln. Wissen Sie, wie viele Formblätter wir pro Tag als Wissenschaftler ausfüllen?

Sagen Sie es uns.

Beisiegel:

Im UKE werden zum Beispiel die Einstellungsformulare für Mitarbeiter alle paar Monate verändert und müssen bei Verlängerungen - leider gibt es sehr viele Kurzzeitverträge - immer wieder ganz neu ausgefüllt werden. Wir füllen nur noch Formulare aus. Und die Mitarbeiter, die in der Klinik arbeiten, gehen ja schon ohne Forschung auf dem Zahnfleisch. Die jungen Kliniker sind einfach am Limit. Wenn ich jetzt höre, dass trotzdem noch Personal in den Kliniken reduziert werden soll, dann muss man einfach etwas dagegen tun. Und ich glaube, dass dem jetzigen UKE-Vorstand dafür die Einsicht fehlt.

Was wollen Sie in Göttingen anders machen?

Beisiegel:

Es geht mir vor allem um eine bessere Unterstützung des Nachwuchses. Auch in Göttingen gibt es natürlich finanziellen Druck. Auch dort hat man, wie im UKE, eine zu stark normierte Unternehmensstruktur entwickelt. Die Verwaltung muss akademisiert werden, und die Formularflut muss eingedämmt werden. Es muss eine Dezentralisierung der Verantwortung geben, Abbau der Bürokratie und eine stärkere Service-Idee in der Verwaltung. Das kostet alles kein Geld, sondern spart sogar Kosten. Ganz wichtig ist außerdem Planungssicherheit für junge Wissenschaftler. Wir brauchen eine gute Kommunikation und bestmögliche Transparenz, nur das schafft das notwendige Vertrauen.

Wie läuft denn die Kommunikation am UKE?

Beisiegel:

Sehr einseitig. Kommunikation am UKE habe ich immer so erlebt, dass der Vorstand etwas verkündet und die Fragen der Mitarbeiter eher "abgebügelt" wurden.

Warum sagen die anderen Professoren dazu nichts?

Beisiegel:

Das muss man sich in der Tat fragen. Da spielt auch Angst vor Nachteilen eine Rolle. Viele haben sich wohl dafür entschieden, durch Anpassung an das System individuelle Vorteile nutzen zu können. Das kann ich persönlich nicht akzeptieren. Auch deshalb habe ich mich entschieden, nach Göttingen zu gehen. Erich Kästner hat einmal gesagt: "Bei jedem Unfug, der gemacht wird, kann man nicht nur demjenigen einen Vorwurf machen, der ihn gemacht hat, sondern auch denen, die ihn nicht verhindert haben." Das gilt auch für die Situation an deutschen Universitäten.

Das UKE wirbt immer mehr Drittmittel ein. Und die Strategie, an der Uni-Klinik Geld zu erwirtschaften, um es dann in die Forschung zu stecken, ist doch richtig.

Beisiegel:

Ja, aber die Drittmitteleinwerbung ist im Vergleich zu anderen Unis noch recht gering, und die Strategie der Forschungsförderung ist meines Erachtens nicht richtig. Gute und kritische Wissenschaftler bleiben oft auf der Strecke. Das Geld wird in die Gruppen gesteckt, die sich besonders angepasst haben und ihre Ergebnisse gut vermarkten. Dabei werden die Ergebnisse zwar lautstark verkauft, aber wenn sie genauer hingucken, steckt gar nichts wirklich Neues dahinter.

Was hat das für Konsequenzen?

Beisiegel:

Das wenig wirklich Neues gefunden wird. Und dass wir in Deutschland möglicherweise auch international nicht mehr so gut dastehen. Der eigentliche Sinn der Wissenschaft, nämlich Wissen zu schaffen, geht verloren.

Seit wann gibt es diesen Trend?

Beisiegel:

Seitdem die Uni-Kliniken wie Unternehmen geführt werden. Patienten werden zu Kunden, und aus defizitären Kliniken sollten profitable Unternehmen werden - das war die klare Ansage. Und in dieser, an sich richtigen Richtung sind wir an vielen Stellen zu weit gegangen. Die durch die Einsparungen entstandenen Verdichtungen der Arbeitsvorgänge in den Kliniken sind ein ernsthaftes Problem in der Krankenversorgung und erlauben kaum mehr gute Forschung. Früher haben die Ärzte, das Pflegepersonal und Wissenschaftler in Teams zusammengearbeitet, und es konnten die Stärken und Schwächen der Kollegen eingeschätzt und somit eine optimale Teamarbeit geleistet werden.

Und jetzt?

Beisiegel:

Jetzt heißt es, jeder muss alles machen. Die Mitarbeiter werden immer neu zusammengewürfelt, und es fehlt der für gute Leistung so wichtige Teamgeist. Diese Entwicklung, vor allem im Pflegebereich, erlaubt keinen sozialen Austausch mehr, und die Patienten sehen mehrmals am Tag andere Pfleger oder Schwestern. Das ist möglicherweise effizienter, aber es bedeutet eben auch, dass Gespräche und wissenschaftlicher Austausch nicht mehr stattfinden, weil die Zeit dafür fehlt. Die menschliche Atmosphäre geht verloren, und das geht deutlich nicht nur auf die Qualität der Arbeit in der Klinik, sondern auch auf die in der Forschung. Es kann nicht richtig sein, dass heute bereits junge Ärzte in der Universitätsmedizin an einem Burn-out-Syndrom leiden und das Interesse an Forschung immer mehr zurückgeht.