In Deutschland steigt die Anzahl der Tierversuche jährlich, die Entwicklung alternativer Methoden kommt dagegen nur langsam voran.

Hamburg. Irgendwann konnte Marcel Leist die Sinnfrage nicht mehr ignorieren. Sechs Jahre hatte der Biochemiker und Toxikologe bei einem Pharmaunternehmen an der Entwicklung von Schlaganfall-Medikamenten gearbeitet, er hatte diverse Substanzen getestet, die eine heilsame Wirkung entfalteten - bei Mäusen. Doch bei Tests am Menschen blieben die Substanzen allesamt wirkungslos. "Da kam ich ins Grübeln", sagt Leist.

Heute leitet der 46 Jahre alte Forscher an der Universität Konstanz den bisher einzigen Lehrstuhl in Deutschland für Ersatzmethoden zum Tierversuch, finanziert von der privaten Doerenkamp-Zbinden-Stiftung. Für seine Methode, menschliche Nervenzellen in der Kulturschale (in vitro) auf Schäden zu untersuchen, erhielt er kürzlich den mit 25 000 Euro dotierten Tierschutzpreis des Landwirtschaftsministeriums von Baden-Württemberg.

Leist sagt, er wolle keine falschen Erwartungen wecken: Noch hätten In-vitro-Methoden Schwächen, sie könnten etwa nicht das Zusammenspiel aller Organe abbilden. "Auch deshalb werden wir in den nächsten 20 Jahren nicht ohne Tierversuche auskommen." Aber: "Die Zahl der Versuche durch neue Methoden zu verringern - das ist heute schon möglich."

Eine nennenswerte Wirkung konnten Forscher wie Leist aber noch nicht erzielen: Die Zahl der Versuchstiere in Deutschland ist von 2,5 Millionen im Jahr 2006 auf fast 2,8 Millionen im Jahr 2009 gestiegen; darunter waren 2,4 Millionen Mäuse und Ratten, 60 000 Kaninchen, 3800 Hunde und 2300 Affen.

Der wichtigste Grund für den Anstieg, so das für den Tierschutz zuständige Bundeslandwirtschaftsministerium, sei der verstärkte Einsatz von transgenen (gentechnisch veränderten) Tieren, "die einen vielversprechenden Erkenntnisgewinn zu bestimmten Krankheiten ermöglichen". Zudem werde immer mehr geforscht.

Zu einem weiteren Zuwachs könnte die REACH-Verordnung der Europäischen Union (EU) führen. Sie verlangt, dass die Eigenschaften aller industriell produzierten Chemikalien bis 2018 registriert werden müssen. Das bedeutet, dass auch seit Langem genutzte Substanzen auf ihre Giftigkeit getestet werden könnten - in Tierversuchen.

Die Folgen schätzen Experten allerdings sehr unterschiedlich ein: Während das Bundesinstitut für Risikoforschung von neun Millionen zusätzlichen Versuchstieren EU-weit ausgeht, rechnete der deutsche Forscher Thomas Hartung vom Center for Alternatives to Animal Testing in Baltimore im Magazin "Nature" vor, dass 54 Millionen Tiere nötig sein könnten.

Obwohl REACH in jedem Fall für zusätzliche Tierversuche sorgen wird, seien Giftigkeitsprüfungen, die zu den vorgeschriebenen Sicherheitstests von Produkten gehören, das kleinere Übel, sagt Manfred Liebsch von der Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch. Er sieht das eigentliche Problem in der Grundlagenforschung, die 2009 mit 32 Prozent den größten Anteil an Tierversuchen hatte.

Grundlagenforschung dient keinem wirtschaftlichen Zweck, sie soll neue medizinische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse produzieren. Tierversuche seien seit jeher ein selbstverständlicher Bestandteil dieser Forschung gewesen, sagt Liebsch: "Dabei könnten wir hier massiv Tierversuche einsparen. Doch dazu müsste bei den Forschern ein Umdenken stattfinden, dass mindestens Ergänzungen zum Tierversuch möglich sind." Ein Beispiel für solche Ergänzungen liefert Elisabeth Schültke: Die Ärztin vom Universitätsklinikum Freiburg hat eine Methode entwickelt, Zellen mit Gold-Nanopartikeln zu markieren. Durch spezielle Röntgenaufnahmen können die Zellen über längere Zeit in Versuchstieren beobachtet werden - ohne dass diese dadurch leiden oder sterben müssen.

Ein Umdenken in der Forschung setze voraus, dass mehr Unterstützung von maßgeblichen Organisationen und von der Politik komme, sagt Leist. "Bisher wird die Entwicklung alternativer Methoden hierzulande viel zu wenig gefördert." Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) verleiht alle zwei Jahre den mit 50 000 Euro dotierten Ursula-M.-Händel-Tierschutzpreis. 2011 erhält die Auszeichnung, als einer von zwei Preisträgern, ein Team um Prof. Thomas Eschenhagen vom UKE. Der Direktor des Instituts für Experimentelle und Klinische Pharmakologie und Toxikologie entwickelte ein Verfahren, bei dem künstliches Herzgewebe aus humanen embryonalen Stammzellen für Arzneimitteltests genutzt wird, was die Zahl der Tierversuche reduzieren kann.

Darüber hinaus unterstützt die DFG derzeit aber kein einziges Projekt, dass sich hauptsächlich mit Ersatz- oder Ergänzungsmethoden zum Tierversuch beschäftigt, wie eine Anfrage des Abendblatts ergab. Es habe zuletzt keine Anträge gegeben, sagt DFG-Sprecher Marco Finetti, "aber grundsätzlich können solche Projekte natürlich Fördergeld erhalten, wenn die DFG sie für qualitativ hochwertig hält". Ein Dossier über Tierversuche auf der DFG-Homepage stammt von 2004. Derzeit werde eine Aktualisierung geplant, teilt Gerald Heldmaier, der Vorsitzende der zuständigen Senatskommission für tierexperimentelle Forschung, mit.

Marcel Leist hat für die aktuelle Fördersituation eine andere Erklärung: "Die DFG hält die Entwicklung von alternativen Methoden immer noch für minderwertige Forschung. Diese Haltung ändert sich zwar, allerdings sehr langsam." Es gebe immer mehr Forscher, die sich mit alternativen Methoden beschäftigten, aber: "Wir könnten größere Effekte erzielen, wenn es in der DFG einen Forschungsschwerpunkt gäbe, der Experten zusammenbrächte."

Diese Experten werden bisher vor allem von der Bundesregierung gefördert: 41,5 Millionen Euro gingen seit 2000 an 152 Projekte, die sich mit Tierversuch-Alternativen beschäftigen. "Viel Geld im Vergleich zu anderen EU-Ländern, mit Blick auf steigende Tierversuchszahlen aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein", sagt Irmela Ruhdel vom Deutschen Tierschutzbund.

Die Bundesregierung verleiht auch einen Tierschutz-Preis: In diesem Jahr ging die Auszeichnung an Forscher des Paul-Ehrlich-Instituts in Langen, die ein Verfahren entwickelten, mit dem Tetanusimpfstoffe auf giftige Wirkungen getestet werden können - ohne dass Tierversuche nötig wären. Der Verband Menschen für Tierrechte begrüßte die Preisvergabe, kritisiert jedoch, die Bundesregierung habe immer noch kein Gesamtkonzept zur Förderung tierversuchsfreier Verfahren. Jährlich werde eine Statistik über Tierversuche herausgegeben, ein Pendant über die Entwicklung tierversuchsfreier Methoden gebe es jedoch nicht.

Eine Reduzierung der Tierversuche soll die neue EU-Tierversuchsrichtlinie erreichen, die alle Mitgliedsländer ab 2013 befolgen müssen. Viele Vorschriften, etwa, dass durch EU-Recht gedeckte alternative Methoden Tierversuchen vorzuziehen sind, gelten hierzulande schon länger. Neu auch für Deutschland ist jedoch die Vorgabe, dass Forscher Informationen über geplante Tierversuche bereits nach der Genehmigung durch die zuständigen Behörden veröffentlichen müssen - und nicht erst, wenn die Versuche abgeschlossen sind. "Das könnte den öffentlichen Druck erhöhen", sagt Irmela Ruhdel.