Ärzte haben erstmals einen Menschen mit embryonalen Stammzellen behandelt. Der Erfolg der Therapie ist fraglich

Hamburg. Es ist ein Novum, vielleicht auch ein großer Schritt in die Zukunft der Medizin: In den USA haben Ärzte einen Patienten mit embryonalen Stammzellen behandelt. Der Versuch sei weltweit der erste dieser Art, der von einer nationalen Behörde genehmigt worden sei, teilte das Biotechnikunternehmen Geron mit, das hinter der Studie steht. Einem nach einer Rückenmarkverletzung teilweise gelähmten Mann seien in einer Klinik im US-Staat Atlanta Stammstellen gespritzt worden. Das Experiment sei der Beginn einer Testreihe mit mehreren querschnittgelähmten Patienten, bei denen die Verletzung des Rückenmarks noch frisch sei. Ihnen sollen binnen 14 Tagen nach der Verletzung embryonale Stammzellen gespritzt werden. Dabei gehe es zunächst darum, die Verträglichkeit einer solchen Therapie zu untersuchen, teilte Geron mit.

Ein Krebsrisiko bestehe nicht, sagen deutsche Forscher

Embryonale Stammzellen gelten als Multitalente: Sie sind noch nicht für eine spezielle Aufgabe im Körper programmiert und können sich in jede menschliche Zelle verwandeln. Weil man aus ihnen Ersatzgewebe für kranke Körperteile züchten könnte, sehen viele Forscher diese Stammzellen als Mittel, um Krankheiten wie Alzheimer oder Leukämie besser zu behandeln. Doch das Verfahren ist umstritten, denn die Zellen werden vor allem aus Embryonen gewonnen, die bei künstlichen Befruchtungen übrig bleiben. Medizinisch gesehen warnen Kritiker vor einem Krebsrisiko infolge der Behandlung; außerdem sei unklar, ob sich die Stammzellen wie gewünscht entwickelten - bisher konnte das nur an Mäusen nachgewiesen werden.

Auch wenn es bei der neuen US-Studie zunächst um die Verträglichkeit der Therapie geht - letztendlich wollen die beteiligten Ärzte erreichen, dass die embryonalen Stammzellen die geschädigten Nervenzellen reparieren. Dadurch sollen die Patienten ihre Bewegungsfähigkeit zurückgewinnen.

Wie bewerten deutsche Forscher die Versuchsreihe? "Ich bin schon seit vielen Jahren dafür, die Forschung mit embryonalen Stammzellen stärker voranzutreiben. Nun geht es in großen Schritten vorwärts - und Deutschland hinkt hinterher", sagt Professor Jürgen Hescheler, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Stammzellforschung (GSZ). "Wir hätten die Ersten sein können, die eine solche Versuchsreihe starten, doch die gesetzlichen Beschränkungen hierzulande haben das verhindert." In Deutschland dürfen Forscher embryonale Stammzellen, die auch pluripotente Stammzellen genannt werden, erst nach einem Antrag beim Robert-Koch-Institut importieren, aber nicht selbst züchten.

Ein Krebsrisiko sehe er bei der Behandlung nicht, sagt Hescheler. Embryonale Stammzellen könnten nur krebserregend wirken, wenn sie unbehandelt ins Gewebe gespritzt würden. Das sei aber nicht beabsichtigt, auch nicht bei der US-Studie: "Die embryonalen Stammzellen werden zunächst vorkultiviert, das heißt, sie werden durch Wachstumsfaktoren in eine Vorläuferzelle - etwa von einer Nervenstützzelle - verwandelt. Wenn das Verfahren richtig durchgeführt wird, kann sich eine Vorläuferzelle nur in die vorgegebene Richtung entwickeln, also zu einer Nervenstützzelle und nicht etwa zu einer Knochenzelle."

Diese Einschätzung teilt auch Professor Manfred Westphal, Leiter der Klinik für Neurochirurgie am UKE: "Ein Krebsrisiko ist sehr unwahrscheinlich." Er halte die Versuchsreihe für sinnvoll, sei allerdings skeptisch, ob sie die hohen Erwartungen erfüllen könne. "Das grundsätzliche Problem von solchen aus embryonalen Stammzellen gewonnenen Vorläuferzellen besteht darin, sie präzise in das komplexe Gesamtsystems eines Körperteils wie das Rückenmark zu integrieren", sagt Westphal. "Spezifisch hergestellte Vorläufer von Nervenzellen können im Rückenmark wachsen und einige Zeit überleben - ob sie jedoch im Gefüge der anderen Nervenzellen ihren Platz einnehmen und dort so funktionieren, wie gedacht - da bin ich skeptisch."

Im Tierversuch könnten Forscher gezielt eine bestimmte Verletzung herbeiführen und sofort mit embryonalen Stammzellen behandeln. "Bei einer Rückenmarksverletzung beim Menschen wissen wir hingegen nicht genau, wie sie entstanden ist, und wir wissen auch noch wenig darüber, wie sich die Nervenzellen nach der Verletzung verhalten. Entsprechend schwierig ist es, embryonale Stammzellen beim Menschen gezielt einzusetzen, um geschädigtes Gewebe zu reparieren." Das Verhalten dieser Zellen im Gewebe sei nicht vorhersehbar, sagt Westphal: "Eine neue Nervenzelle muss im Rückenmark Tausende Verknüpfungen mit anderen Nervenzellen vornehmen. Wenn die Verknüpfungen falsch sind, kann es zum Beispiel zu Spastiken kommen."

Induzierte pluripotente Stammzellen könnten das Ethik-Problem lösen

Ein weiteres mögliches Problem: Selbst wenn die Zellen funktionierten wie geplant, sei es mit den heutigen bildgebenden Verfahren nicht möglich, die embryonalen Stammzellen bei der Reparatur genau zu beobachten. "Man wird nach dieser Versuchsreihe etwas zu Nebenwirkungen sagen können. Es ist aber nicht zu erwarten, dass die Behandlung von Rückenmarkverletzungen revolutioniert wird."

Professor Jürgen Hescheler von der GSZ sieht die Arbeit seiner US-Kollegen als "Vorarbeit". Die Zukunft seien induzierte pluripotente Stammzellen (iPS). Dabei handelt es sich um beliebige Körperzellen, die durch eingeschleuste Steuerungsgene in pluripotente Stammzellen umprogrammiert werden können. Mit dem in Japan entwickelten Verfahren lassen sich ebenfalls verschiedene Körperzellen für Ersatzgewebe züchten - dafür muss aber kein Embryo hergestellt und zerstört werden. Noch birgt die Methode allerdings Risiken, weil für das Einschleusen der Gene Viren nötig sind.

Sein Team forsche bereits mit iPS-Zellen, sagt Hescheler, der an der Universität zu Köln das Institut für Neurophysiologie leitet. Aber: "Von klinischen Studien am Menschen sind wir noch weit entfernt."