Über den Rückgang der Kabeljau-Bestände wird viel diskutiert. Doch vor allem über Fangquoten und nicht über das fragile Nahrungsgeflecht der Fische.

Hamburg/Rostock. Was hat der Kabeljau mit dem Grauen Knurrhahn zu tun? Wie stark leidet der Dorschbestand, wenn die Sprotten überhand nehmen? Und welche Rolle spielt dabei die Wassertemperatur? Fragen wie diese rücken immer stärker ins Interesse der Fischereibiologen. Denn längst steht fest: Nicht allein der Fischereidruck entscheidet über das Schicksal eines Bestandes, sondern vielmehr die fragilen Beziehungen eines Nahrungsnetzes, in das die begehrten Speisefische integriert sind.

Der Bestand der geschlechtsreifen Nordsee-Kabeljaue (in der Ostsee traditionell Dorsch genannt) liegt seit der Jahrtausendwende unterhalb des Grenzwertes für eine bestandssichernde Vermehrung. Er befindet sich "auf niedrigem Niveau mit leichten Zeichen der Erholung", formuliert es Dr. Matthias Bernreuther vom Hamburger Institut für Seefischerei des Von-Thünen-Instituts (vTI). Ein Blick in die Vergangenheit gab ihm und seinen Kollegen Rätsel auf: Schon Mitte der 1960er-Jahre wurde die Kabeljaufischerei so intensiv, dass die Bestände hätten zusammenbrechen müssen. Das taten sie aber erst Anfang der 1980er-Jahre. Die Hypothese der Forscher lautet: Günstige Klima- und Nahrungsbedingungen hielten den Kabeljaubestand fast zwei Jahrzehnte lang über Wasser.

Tatsächlich veränderten kühlere Wassertemperaturen in der Nordsee Anfang der 1960er-Jahre die Zusammensetzung des tierischen Planktons. Der winzige Ruderfußkrebs Calanus finmarchicus gewann Oberhand, er ist eine wichtige Nahrung für die Kabeljaularven. Der Nachwuchs stand gut im Futter und konnte so den Schwund durch die starke Fischerei ausgleichen. Knapp 20 Jahre später begannen die Wassertemperaturen zu steigen. Dadurch sank die Dichte der Ruderfußkrebse und damit das Futterangebot der Kabeljaularven. Zwar profitierte eine andere Ruderfußkrebs-Art von den geänderten Verhältnissen. Aber sie kommt erst im Herbst besonders reichlich vor - wenn die jungen Kabeljaue bereits größere Futtertiere benötigen.

Mit dem Niedergang des Kabeljaus trat zudem der Graue Knurrhahn auf den Plan. Er besetzte die ökologischen Nischen, die die Kabeljaue hinterließen. Die Knurrhähne fressen bevorzugt Fischbrut, auch jungen Kabeljau. Die wärmeren Temperaturen verstärken diesen Effekt, weil sich die Vorkommen des Grauen Knurrhahns und der Jungfische dadurch stärker überschneiden.

Solche komplizierten Zusammenhänge fließen bislang noch nicht in die EU-Fischereipolitik ein - auch weil es dazu noch viel Forschungsbedarf gibt. Doch hat sich die EU das Ziel gesetzt, bis 2015 alle Ressourcen, also auch die Fischwelt, nachhaltig zu nutzen. Das geht bei der Fischerei aber nur, wenn jede Art gemeinsam mit ihrer Rolle im Ökosystem betrachtet wird.

"Wir brauchen ein Mehrarten-Management", sagt Dr. Christopher Zimmermann vom Institut für Ostseeforschung im vTI. "Es reicht nicht, nur Fangmengen fest zu legen. Vielmehr müsste den Fischern gesagt werden: Ihr könnt 15 Prozent mehr Dorsch fangen, wenn ihr gleichzeitig 30 Prozent mehr Sprotte entnehmt. Aber auch dies reicht noch nicht aus. Denn die einjährigen Quoten berücksichtigen keine mehrjährigen Entwicklungen."

Durch den starken Fischereidruck auf die Dorsche hat sich in der Ostsee das Verhältnis von Dorsch und Sprotte umgekehrt. Eigentlich muss die kleinere Sprotte den Raubfisch Dorsch fürchten - sie dient erwachsenen Tieren als Futter. Doch die landen zum Großteil in Schleppnetzen. Die Sprotte profitierte davon und von wärmeren Wintern, vermehrte sich stark und frisst nun ihrerseits verstärkt die Dorscheier weg. Zudem sorgten relativ geringe Sauerstoff- und Salzgehalte in den 80er- und 90er-Jahren dafür, dass den überlebenden Larven ein Ruderfußkrebs (Pseudocalanus acuspes) als Hauptnahrung fehlte.

Beides trug dazu bei, dass der Dorsch in der Ostsee seit Jahrzehnten ein Sorgenkind ist. Allerdings unterscheiden die Fischereibiologen zwischen zwei Ostsee-Beständen, dem westlichen und östlichen mit der Insel Bornholm als Grenze. Beim Ostbestand sehen sie Anzeichen der Besserung. Zimmermann: "Nach dem polnischen Regierungswechsel im Jahr 2007 haben sich die Bedingungen für den Dorsch dort deutlich verbessert. Zuvor fingen die polnischen Fischer doppelt so viel, als ihnen laut Quote zustand. Die neue Regierung hat konsequent durchgegriffen und die illegale Entnahme gestoppt. Dadurch reduzierte sich der Fischereidruck drastisch. Gleichzeitig gab es eine Reihe stärkerer Nachwuchsjahrgänge."

Um die Genesung nicht zu gefährden, sehe der Managementplan vor, die Fangmengen trotz des starken Nachwuchses pro Jahr um nicht mehr als 15 Prozent zu erhöhen, so Zimmermann. "Auf diese Weise wird eine gesunde Altersstruktur aufgebaut. Denn wir brauchen ältere Weibchen. Sie produzieren deutlich mehr Eier als junge. Wenn der derzeitige Trend so weitergeht, können wir in ein bis zwei Jahren mit Fug und Recht sagen, dass sich der Bestand erholt hat." Dann hätten aufgrund der größeren Zahl erwachsener Dorsche die Sprotten wieder das Nachsehen.

Der westliche Bestand hatte in den vergangenen Jahren zwar ähnliche Umweltbedingungen wie die östliche Verwandtschaft, doch blieb hier der Druck der Fischerei. "Die Fangmengen sind immer noch zu hoch", so Zimmermann. Für die Dorsche und das gesamte Ökosystem wäre es ideal, wenn die Fischerei drei bis vier Jahre lang ausgesetzt würde. "Aber wie sollen die Fischer drei Jahre überleben?", fragt Zimmermann.

Er hält die ökologische Ideallösung eines Fangmoratoriums für nicht praktikabel. Schließlich gehört zur ganzheitlichen Betrachtung nicht nur das Ökosystem Meer, sondern auch der Mensch. Das Jäger-Beute-Verhältnis zwischen Mensch und Speisefisch ist hinlänglich bekannt, es dominiert die Fischereipolitik. Dagegen rückt das Zusammenspiel im Nahrungsnetz der Meeresbewohner erst allmählich ins Bewusstsein.