Beim Reihenspiel des Hamburger Schachprofis Jan Gustafsson durften seine acht Gegner die Vorschläge des weltbesten Computers nutzen.

Hamburg. Um vier Minuten vor drei kappte Jan Gustafsson, 32, die Verbindung zur digitalen Welt. Der Hamburger Schachgroßmeister schaltete sein Smartphone aus. In den nächsten drei Stunden musste er sich auf seine eigenen Schaltkreise verlassen. Und das war an diesem Nachmittag in der Tat die Herausforderung. Gustafsson trat in einer Simultan-Veranstaltung im Congress Center (CCH) am Dammtor-Bahnhof gegen acht Schachamateure an. Das wäre gewöhnlich ein leichtes Spiel für den Mannschafts-Europameister, doch seine Gegner durften diesmal auf die Vorschläge des derzeit weltbesten Schach-Computers Houdini zurückgreifen; zwar nur bei jedem zweiten oder dritten Zug, das genügte aber, um einen der besten Schachprofis der Welt in der Hälfte der Partien in Schwierigkeiten zu bringen.

Was Computer inzwischen leisten können, und wie man sie künftig sinnvoll nutzt, ist das Thema der 27. Internationalen Supercomputer-Konferenz im CCH, die heute zu Ende geht. Das schachliche Reihenspiel lieferte dabei einen anschaulichen Einblick in die Fähigkeiten der schnellen Brüter. "Dass Computer die besseren Schachspieler sind, diese Diskussion ist längst entschieden. Wir wollten mit unserem Experiment zeigen, dass die Geräte schon derart stark sind, dass selbst Hobbyspieler mit ihrer Hilfe in die Lage versetzt werden, Großmeister zu besiegen", sagte Gustafsson. Mit seiner neu gegründeten Internetfirma Cisha, die seit vier Monaten in der ABC-Straße 35 in der Hamburger Innenstadt sitzt, hatte er diesen Termin für die reale und virtuelle Welt organisiert.

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Dass Gustafsson beide Wettkampfrunden am Ende überlegen gewann, die erste mit 6,5:1,5 Punkten, die zweite mit 6:2, war dann eher ein humanes Problem. Ein Teil seiner Gegner verzichtete aufgrund von Bedienungsschwierigkeiten und aufkommender Hektik auf die Tipps der Maschine, diejenigen aber, die sich konsequent auf den Rat des Elektronenhirns verließen, gewannen. Was, das muss erwähnt werden, auch dem Hamburger Christoph Schomberg gelang, der sich in seiner ersten Partie ganz auf seine eigenen Einfälle verlassen hatte. Im zweiten Durchgang bestrafte ihn Gustafsson für dessen allzu menschlichen Ehrgeiz.

Computer haben nicht nur die Welt verändert, die Schachwelt wäre ohne sie wohl nicht mehr denkbar. "Wir sind zu Sklaven der Engines geworden", sagt Gustafsson. "wir suchen ihre Urteile und verlassen uns auf sie." Während ein Mensch maximal eine Stellung pro Sekunde bewerten kann, schafft ein rund 50 Euro teures Computerprogramm wie Houdini bis zu 300 000. Und schneller als andere "Silizium-Monster" unterscheidet Houdini wichtige von unwichtigen Varianten. Dadurch kann es weiter rechnen als andere Computer und kommt bei seinen Zugvorschlägen meist zu besseren Ergebnissen. Die Reduzierung auf das halbwegs Wesentliche ist der entscheidende Fortschritt der Schachprogrammierung. Dazu muss man wissen, dass bei einer Spielfolge von 40 Zügen, der Länge einer umkämpften Partie, es auf dem Schachbrett mehr Möglichkeiten gibt, als Atome im Universum existieren. Bei so viel spielerischer Intelligenz ist selbst der indische Weltmeister Viswanathan Anand gegen das Produkt des belgischen Software-Entwicklers Robert Houdart chancenlos. Als ständiger Trainingspartner ist es indes nicht nur für ihn unverzichtbar geworden.

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Wie Computer das Denken der Schachmeister verändert haben, obwohl diese nichts vom Schach verstehen und nur rechnen können, bringt Gustafsson auf den Punkt: "Du verlässt dich bei der Auswahl deiner Züge nicht mehr auf deine Intuition oder dein über Jahre entwickeltes Stellungsgefühl, sondern nur noch auf konkrete Kalkulationen. Züge, die du früher als 'hässlich' von vornherein verworfen hast, prüfst du heute mit derselben Akribie wie jene, die dir sofort ins Auge fallen."

Anand hat diese Entwicklung im Gespräch mit dem Abendblatt wie folgt beschrieben: "Ich bin kritischer geworden, hinterfrage bei meinen Entscheidungen viel öfter meine Denkschemata und lasse mich weniger von allgemeinen Strategien leiten. Ich suche nach dem besonderen Zug, der Ausnahme von der vermuteten Regel, die ja nie eine Regel, sondern ein Krückstock zur Orientierung war. Diese sogenannten Ausnahmen folgen ja ebenso einer Logik, nur haben wir diese bisher nicht erkannt. Es gibt beim Schach keine geheimen Informationen. Wir müssen nur zusammenbringen, was zusammengehört." Anand, inzwischen 42 Jahre alt, schafft das noch immer besser als seine weit jüngere Konkurrenz.

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Dabei ist ein erstaunliches Phänomen zu beobachten. Die Generation Computer hat die absolute Weltspitze bisher nicht erklommen, vielmehr beherrschen weiter jene Großmeister die 64 Felder, die ihr Wissen einst aus Büchern bezogen. Die Nummer eins der Weltrangliste, der 21 Jahre alte Norweger Magnus Carlsen, bildet da keine Ausnahme. Er bedient sich zwar intensiv binärer Rechenkraft, im Gegensatz zu vielen seiner Altersgenossen, hat er jedoch die Partien der alten Meister ausführlich studiert. Diese Mischung aus profunden Schachkenntnissen gepaart mit intelligenter Nutzung der Maschinen zeichnet Carlsens Spiel aus.

"Carlsen zeigt, wie umsichtig man heute mit Computern umgehen sollte", sagt Gustafsson. Viele würden dagegen der Gefahr unterliegen, nur die Maschine einzuschalten und nicht mehr den eigenen Kopf. Menschen seien von Grund auf faul, glaubt der Hamburger Großmeister, darunter leide ihre Kreativität. Der oft mühsame Prozess, selbst etwas herauszufinden, drohe verloren zu gehen. "Wir dürfen unser Denken nicht unseren Fingern überlassen", mahnt Gustafsson, per Mausklick lasse sich zwar vieles ergründen, aber nicht alles auch verstehen.