Vor einem Jahr wurde eine neue Form des Darmkeim-Erregers zur lebensbedrohlichen Gefahr. 53 Menschen starben, 3800 erkrankten.

Hamburg. Bauchkrämpfe, blutiger Durchfall, Bluthochdruck: Der gefährliche Darmkeim EHEC trifft die Infizierten im Mai 2011 aus heiterem Himmel. Aus kerngesunden, jungen Menschen werden innerhalb weniger Stunden Schwerkranke. Viele liegen auf der Intensivstation, klagen über schlimme Schmerzen. Rund 3800 Menschen erkranken, 53 überleben den größten bisher bekannten EHEC-Ausbruch in Deutschland nicht. Das Zentrum der Epidemie ist Hamburg. Wochenlang herrscht Panik vor Ansteckung. Die Krankenhäuser der Hansestadt behandeln 900 EHEC-Patienten, darunter auch Menschen aus dem Umland. Zudem müssen zahlreiche Verdachtsfälle untersucht werden. Auf eine solche Krise ist niemand vorbereitet, die Belastung für Behörden, Ärzte und Pflegepersonal ist groß.

Allein im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) liegen 137 Patienten, bei denen die schwere EHEC-Verlaufsform hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS) diagnostiziert wird. Ständig kommen neue Symptome hinzu: Nierenprobleme, neurologische Störungen, hämmernde Kopfschmerzen oder 30 Kilo Wassereinlagerungen sind typisch. „Die Schwere der Krankheitsbilder belastete mich“, erinnert sich UKE-Nierenspezialist Professor Rolf Stahl. Insgesamt erkranken in der Hansestadt 568 Menschen an EHEC, weitere 184 haben HUS.

Fieberhaft wird nach der Infektionsquelle gesucht. Warum sind so viele Frauen betroffen, die sich gesund ernähren? Das Berliner Robert Koch-Institut (RKI) warnt am 22. Mai vor dem Verzehr roher Tomaten, Gurken und Salate. Der Absatz von frischem Gemüse geht drastisch zurück. Vier Tage später vermeldet das Hamburger Hygiene-Institut, spanische Salatgurken seien mit EHEC-Keimen belastet. Doch es stellt sich heraus, dass es sich um einen anderen Erregertyp handelt.

+++Ein Jahr danach: Biohof leidet unter Folgen+++

Bis heute ist eine Schadenersatzklage eines Gemüseproduzenten anhängig. Hamburgs Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) sieht der Klage gelassen entgegen: „Ich sage nach wie vor, es war notwendig, diese Warnung auszusprechen“, erklärt sie. „Auch wenn es schließlich nicht der damals grassierende Typ 0104 war, so haben wir doch auf dem Lebensmittel einen EHEC-Erreger gefunden, der die Komplikation HUS hätte auslösen können.“ Es dauert Wochen, bis mit frischen Sprossen endlich die Ursache für die EHEC-Welle gefunden ist. Aus Ägypten importierte Bockshornkleesamen gelten als Quelle für die Infektionen.

Die richtige Behandlungsmethode für die neue Form des EHEC-Erregers? Darüber herrscht in den Kliniken große Unsicherheit. Man versucht es bei vielen HUS-Patienten mit Plasmapherese (Austausch von Blutplasma) oder einer neuen Antikörpertherapie. Professor Stahl ist überzeugt, dass Plasmapharese wenig gebracht hat, der Einsatz des Antikörpers Eculizumab aber die Patienten überwiegend zur vollständigen Genesung führte. Noch läuft dazu eine klinische Studie an 25 Zentren. Alle Daten sollen zur Auswertung im Juni vorliegen, die Ergebnisse wahrscheinlich Ende des Jahres publiziert werden. Kritiker bemängeln, dass es bei der Studie keine Vergleichsgruppe gibt. „Natürlich ist das eine Schwäche“, sagt Stahl. „Doch wenn ich mir unsere UKE-Patientendaten anschaue, habe ich keine Zweifel am Erfolg von Eculizumab.“

Noch heute kommen 120 Patienten zur Nachsorge in das UKE. Bis zu zehn Prozent der ehemaligen HUS-Kranken hat Folgen wie Bluthochdruck, eingeschränkte Nierenfunktion, erhöhte Eiweiß-Ausscheidung oder Konzentrationsstörungen zurückbehalten. Vielleicht werden die Schäden ein Leben bleiben. Wer im vergangenen Jahr schwer an EHEC erkrankte, spricht heute meist ungern darüber. „Die Patienten haben zum Teil fürchterlich schreckliche Erinnerungen an diese Zeit, nicht jeder will damit konfrontiert werden“, erklärt Stahl. „Die psychische Belastung war enorm, das muss man erst einmal verarbeiten.“

Seit Juli ist der große EHEC-Ausbruch überwunden. Doch im Februar dieses Jahres sorgte der Tod eines sechsjährigen Mädchens in Hamburg wieder für großes Aufsehen, es starb an den Folgen von HUS. Der Erregertyp war jedoch ein anderer als bei der Epidemie im vergangenen Jahr. „Die Krankheit trat in der Vergangenheit auf und es wird sie auch weiterhin geben“, sagt Senatorin Prüfer-Storcks. „Hoffentlich nicht in dem Ausmaß wie im Frühsommer 2011, aber niemand kann das für die Zukunft ausschließen.“