Insekten brachten Nobelpreisträger Jules Hoffmann bahnbrechende Erkenntnisse. Am Dienstag besuchte er den Wissenschaftsnachwuchs.

Borstel. Fast wäre sein Besuch geplatzt. Das Personal von Air France streikt, die Hälfte der Flüge wurde gestrichen. Doch Jules Hoffmann wollte die 230 Nachwuchswissenschaftler nicht enttäuschen, die in Deutschland auf ihn warteten. Also stand der Medizinnobelpreisträger 2011 gestern um fünf Uhr morgens auf, um früher als geplant nach Hamburg zu fliegen - und von dort eine Stunde durch die verschneite Landschaft Schleswig-Holsteins zu fahren, bis zum Forschungszentrum Borstel. Dort hielt er am Abend einen Vortrag vor den Mitgliedern des Exzellenzclusters Entzündungsforschung, eines Verbundes, an dem neben Borstel die Universitäten Kiel und Lübeck beteiligt sind.

Wir treffen Hoffmann im Herrenhaus des Forschungszentrums, einem geschichtsträchtigen Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, aufwendig restauriert, mit imposanten Kronleuchtern und stuckverzierten Decken. Hoffmann könnte der Hausherr sein, so elegant kommt er daher. Wenn er müde ist, sieht man es ihm nicht an: Der 70-Jährige begrüßt uns mit wachem Blick und festem Händedruck. Er spricht mit sanfter Stimme, sein Deutsch ist fast perfekt, der französische Akzent - er ist gebürtiger Luxemburger - kaum vernehmbar. Während wir uns unterhalten, wird ihm zu Ehren das Kellergewölbe des Herrenhauses dekoriert: An den Wänden hängen Abbildungen von Fruchtfliegen der Gattung Drosophila melanogaster; in der Küche wird eine Torte vorbereitet, auch sie verziert mit einer Fruchtfliege - aus Marzipan.

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Es waren seine Arbeiten über dieses Insekt, die Jules Hoffmann zum Durchbruch verhalfen - und die dazu beitrugen, das Verständnis für das Immunsystem zu revolutionieren. Fruchtfliegen? Hoffmann, studierter Biologe und Chemiker, wurde belächelt, als er in den 90er-Jahren mit seinen Studien begann. Zunächst stellte er fest, dass die Insekten gegen Krankheitserreger sogenannte antimikrobielle Peptide einsetzen, natürliche Antibiotika, die den Keimen innerhalb von Stunden den Garaus machten. Nur: Wie schaffte es das Immunsystem der Tiere überhaupt, die Eindringlinge zu erkennen, also körperfremde von körpereigenen Stoffen zu unterscheiden?

Bei einigen von Hoffmanns Forschungsobjekten funktionierte das Toll-Gen nicht richtig. Dieses Gen ist für die Funktion eines Proteins zuständig, von dem seine Entdeckerin, die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard, so begeistert war, dass sie es Toll nannte. Toll fand sie das Molekül deshalb, weil es die Entwicklung des Körperbaus von Fruchtfliegen mitsteuert. Als Jules Hoffmann Insekten mit defektem Toll-Gen mit Pilzen infizierte, starben die Tiere. 1996 veröffentlichte er die Studie. Damals ahnte er nicht, dass er einen fundamentalen Mechanismus der körpereigenen Abwehr entdeckt hatte. 1998 wies der amerikanische Immunologe Bruce Beutler nach, dass der gleiche Mechanismus mit Toll-ähnlichen Proteinen (TLR) bei Mäusen vorkommt; wenig später zeigten Zellversuche, dass auch die Immunabwehr des Menschen durch TLR geprägt ist. "Heute gibt es 20 000 Arbeiten über Toll-ähnliche Rezeptoren bei Mäusen und beim Menschen", sagt Hoffmann.

Seit 1996 hat der Forscher neben TLR noch etliche weitere Moleküle in Fruchtfliegen entdeckt, die an der Immunabwehr beteiligt sind, etwa solche, die gram-negative Bakterien erkennen. Auch hier zeigten sich bald Parallelen: Beim Menschen steuern ähnliche Stoffe Entzündungsreaktionen, die durch eine Infektion entstehen. "Das Faszinierende ist: Im Laufe der Evolution sind Mechanismen entwickelt worden, die zunächst für eine bestimmte Aufgabe wichtig waren, etwa für die Entwicklung des Körperbaus einer Fruchtfliege. Die gleichen Moleküle wurden dann ab einem späteren Zeitpunkt auch bei höher entwickelten Organismen noch einmal eingesetzt, um für die Immunabwehr zu arbeiten - oder auch ganz andere, entzündungsregulierende Funktionen zu steuern. Dass diese Erkenntnis möglich wurde, ist das große Verdienst von Jules Hoffmann", sagt der Infektionsforscher Prof. Stefan Ehlers vom Forschungszentrum Borstel, der Hoffmann während dessen Aufenthalts betreut.

Neben dieser neuen Sichtweise auf die Evolution haben Hoffmanns Erkenntnisse über die Immunabwehr bei Fruchtfliegen auch etliche Fortschritte in der medizinischen Behandlung des Menschen ermöglicht. Impfverstärker etwa, sogenannte Adjuvanzien, die in jeder Impfung enthalten sind und dafür sorgen, dass der Körper in ausreichender Menge Antikörper bildet, müssen von Toll-ähnlichen Rezeptoren erkannt werden, sonst funktioniert die Impfung nicht. "Da der zugrunde liegende Mechanismus bekannt ist, können Forscher heute Impfverstärker herstellen, die nicht nur effektiver sind, sondern auch weniger Nebenwirkungen haben", erläutert Jules Hoffmann. Auch den Ablauf sehr starker Entzündungsreaktionen, etwa durch eine Blutvergiftung, verstünden Mediziner mit Blick auf TLR heute besser. Außerdem spielen die Rezeptoren eine wichtige Rolle bei Autoimmunerkrankungen, bei denen der Körper eigene Stoffe als fremd ansieht und bekämpft. Auch hier arbeiten Forscher an besseren Therapien.

Und wie geht es für Jules Hoffmann weiter? "Ich verspüre in meinem Alter keinen Druck mehr, weitere Erkenntnisse zu liefern", sagt der 70-Jährige. Er freue sich vor allem für den Nachwuchs: "Junge Forscher haben heute technische Möglichkeiten, die für uns damals undenkbar waren. Eine DNA-Analyse ganzer Organismen in wenigen Stunden, Mikroskopie im Nanometerbereich - davon konnten wir nur träumen." Unverändert bestehe allerdings die Herausforderung, gute Fragen zu stellen. Und begeistert zu sein, auch wenn an einen wissenschaftlichen Durchbruch noch nicht zu denken sei - so, wie es auch ihm einmal erschien, in den 90er-Jahren.

Für die 230 Nachwuchswissenschaftler, die am Abend Hoffmanns Vorlesung im Herrenhaus Borstel gespannt lauschten, sprang jedenfalls der Funke über.