Die Drift der Kontinentalplatten ist die Basis des Lebens. Für diese Theorie wurde Alfred Wegener verspottet. Heute ist sie Lehrmeinung.

Hamburg. Anfangs mögen die "hochverehrten Professores" noch wohlwollend auf diesen jungen, drahtigen Meteorologie-Dozenten geschaut haben, der da am Dreikönigstag 1912 seine Theorie erstmals der Öffentlichkeit vorstellen will. Alfred Wegener, 32 Jahre alt, beginnt seinen Vortrag vor der Hauptversammlung der Geologischen Vereinigung in Frankfurt ja auch noch recht vorsichtig: "Im Folgenden soll ein Versuch gemacht werden, die Großformen der Erdrinde, das heißt die Kontinentaltafeln und die ozeanischen Becken, durch ein einziges Prinzip genetisch zu deuten", kündigt er an. Und dann spricht er von driftenden Kontinenten, einer Ur-Landmasse und wie sich viele geologische Beobachtungen durch seine Theorie erklären ließen.

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Bald schon ist die Zuhörerschaft weniger respektvoll schweigsam. Kontinente bewegen sich - was für eine Behauptung, und dann noch von einem eigentlich fachfremden Wissenschaftler! Galt nicht seit Jahrzehnten schon das geologische Weltbild, dass die Erde einem schrumpfenden Apfel ähnelt? Dass die Gebirge Runzeln und die Ozeane Dellen gleichen? Dass Kontinente im Ozean versunken seien? Und dann erdreistet sich dieser Jungspund, ein völlig neues Bild des Planeten zu skizzieren. "Humbug", "Blödsinn", "mit klarem Verstand darf man so etwas nicht unterstützen" - solche Kommentare erntet Wegener. Raunen, Zwischenfragen, der junge Forscher spricht schneller, wird unterbrochen. Unmut auch in den Tagen danach. Ein Fiasko. "Von Diskussionen musste wegen der fortgeschrittenen Zeit abgesehen werden", heißt es später schlicht im Protokoll.

Nach diesen Januartagen 1912 sieht sich Wegener noch oft solchen Reaktionen ausgesetzt. Kollegen sprechen von "Fieberfantasien" und "Krustendrehkrankheit". Stumm, mit der Pfeife im Mund, hört er zu, wenn die anderen sich entrüsten. Er ahnt vielleicht, dass er recht behalten wird. Zeitgenossen beschreiben ihn als sehr gelassen, auch bei heftiger Kritik. Aber innerlich muss er manchmal zornig geworden sein bei so viel Ignoranz gegenüber neuem Denken. Hätten seine Kritiker die "Verschiebungstheorie schon auf der Schule gelernt, so würden sie sie mit demselben Unverstand in allen, auch den unrichtigen Einzelheiten, ihr ganzes Leben hindurch (so) vertreten, wie jetzt das Absinken von Kontinenten", schreibt er in jenen Tagen.

Erst in den 1970er-Jahren wird seine Theorie zur anerkannten Lehrmeinung. Die Kontinentaldrift ist Bestandteil der sogenannten Plattentektonik - die erklärt, warum Kontinente sich tatsächlich bewegen, warum Erdbeben und Vulkanausbrüche entstehen, warum Gebirge wie die Alpen aufgefaltet wurden. Und die Bewegung der Kontinente, wie sie sich Wegener allein aus Nachdenken heraus erklärte, ist letztlich auch ein Garant für das Leben auf diesem Planeten. Sie sorgt für Vulkanausbrüche und wegen des gewaltigen Kohlendioxidausstoßes für den natürlichen Treibhauseffekt, ohne den überall auf der Erde eine eisige Temperatur von gut 17 Grad Minus herrschen würde.

Wer war dieser Wegener, der seine These von der "Entstehung der Kontinente und Ozeane" im Wesentlichen während seiner Zeit in Hamburg weiter präzisierte? Ein Schreibtisch-Forscher, der sich in physikalischen Theorien vergrub? "Wohl kaum, er war eher ein harter Knochen und ein Vorbild als Wissenschaftler, ein Kopernikus der Geowissenschaften", sagt der Wissenschaftshistoriker Reinhard Krause. Wegener habe unser Bild von der Erde revolutioniert und dafür Spott und Häme in Kauf genommen.

Geboren wird Wegener am 1. November 1880 als jüngstes von fünf Kindern einer Pastorenfamilie in Berlin. Früh schon entwickelt er eine Liebe zur Natur, als sein Vater 1886 das Gutshaus in Zechlinerhütte bei Rheinsberg als Ferienhaus erwirbt. Alfred und seine Brüder streifen durch die Wälder, segeln im Sommer auf den Seen, touren auf Schlittschuhen über das Eis. Wegener schließt die Schule wie sein zwei Jahre älterer Bruder Kurt als Klassenbester ab. Beide beschließen ein Studium der Naturwissenschaften und werden später eng und viel zusammenarbeiten.

Alfred studiert Meteorologie und Astronomie in Berlin, Heidelberg und Innsbruck, wo er mit Kurt ausgedehnte Hochgebirgstouren unternimmt. Als Student schon verzieht er sich nicht nur ins stille Studierkämmerlein. Überliefert ist eine Strafverfügung über fünf Mark wegen "Unfugs und ruhestörenden Lärms", nachdem der Student mit Kommilitonen nachts durch die Straßen gezogen war, behängt mit weißen Laken.

1905 wird Wegener Assistent am Aeronautischen Observatorium Lindenberg bei Beeskow, wo auch sein Bruder arbeitet. Beide erforschen Drachen und Fesselballons und stellen mit einer gemeinsamen, 52,5 Stunden langen Ballonfahrt im Jahr 1906 einen Weltrekord auf.

Im selben Jahr bricht Wegener zu seiner ersten Grönland-Expedition auf. Hier sieht er zum ersten Mal die mächtigen Eisberge, die sich durch das Treibeis schieben. Möglichweise keimt seine Überlegung hier: Ein Eisberg schwimmt, weil er leichter ist als das Wasser. Wie aber kann es dann sein, dass nach der gängigen Theorie der versunkenen Kontinente dieses physikalische Prinzip umgekehrt sein soll? Wie soll die leichtere Granitkruste der Kontinente unter den schweren Basaltboden der Ozeane tauchen? Muss es nicht anders herum sein?

1911, Wegener ist inzwischen junger Privatdozent in Marburg, kommt der zündende Gedanke. In der Bibliothek stößt er auf eine Abhandlung über Fossilfunde in Afrika und Südamerika, die sich verblüffend ähneln. Die Theorie eines Urkontinents entsteht, den Wegener Pangäa nennt und dessen Teile nach seiner Vorstellung auseinandergedriftet waren. Damit ließ sich vieles erklären, etwa ähnliche Spuren einer urzeitlichen Vereisung auf den Südkontinenten, gleiche Flora und Fauna dort.

"Passt die Ostküste Südamerikas nicht genau an die Westküste Afrikas, so, als wären sie einst verbunden gewesen?", schreibt er seiner Verlobten und späteren Ehefrau Else Köppen, Tochter des berühmten Hamburg Meteorologen Wladimir Köppen.

Nach der Präsentation 1912 arbeitet Wegener unbeirrt an seiner Theorie weiter. Unterbrochen durch den Ersten Weltkrieg, bei dem er an der Westfront zweimal verwundet wird. 1920 zieht er mit Frau und zwei Töchtern nach Hamburg, wo eine dritte Tochter geboren wird. Die junge Familie wohnt in Groß Borstel bei den Schwiegereltern. Wegener arbeitet als Beamter und Nachfolger seines Schwiegervaters an der Seewarte und wird gleichzeitig außerordentlicher Professor an der gerade gegründeten Hamburger Universität. "Eine enorme Doppelbelastung", sagt der Wissenschaftshistoriker Krause. Zumal Wegener in seiner Hamburger Zeit weitere Auflagen seiner Schrift von der "Entstehung der Kontinente und Ozeane" verfasst. 1924 folgt ein Ruf an die Universität Graz, wo berühmte Kollegen lehren.

1930 bricht Wegener zu seiner letzten Grönland-Expedition auf. Kurz nach seinem 50. Geburtstag kämpft er sich mit einem jungen Begleiter und 17 Schlittenhunden von einem Eishöhlencamp zurück, um Proviant für die völlig entkräfteten Kollegen zu holen, die er zurücklassen musste. Bei minus 45 Grad wehen eisige Winde. Auch Wegener und sein Begleiter sind am Ende ihrer Kräfte. Sie kommen nie an. Der Forscher stirbt im Eis. "Vermutlich war es eine Herzsache", sagt Krause. Erst im Mai 1931 finden befreundete Kollegen die Leiche. Wegener liegt in seinem Schlafsack auf einem Rentierfell, die Augen geöffnet. Die Freunde stellen ein Kreuz auf. Davon ist heute nichts mehr zu sehen. Das eisige Grab des standhaften Forschers hat der Gletscher mitgenommen, es ist verschwunden wie die Überreste seines Expeditions-Begleiters und seine Tagebücher.

Nach seinem Tod wird seine Theorie zunächst vergessen. Erst weitere Forschungen decken sich mit seinen Annahmen: Heute weiß man, dass sich die Kontinente zwar nicht, wie Wegener dachte, um Meter pro Jahr bewegen, aber sie schieben sich doch mit dem Wachstumstempo eines Fingernagels voran. Man nimmt an, dass es neben sechs großen auch viele kleinere Platten gibt. Dort, wo sie aneinanderstoßen, sind oft Erdbebenzonen. Die etwa 100 Kilometer mächtige, in Platten zerbrochene Gesteinshülle schwimmt dabei regelrecht auf den zähflüssigen Gesteinen der darunterliegenden heißen Schicht des oberen Erdmantels.

Die ozeanische Kruste hingegen entsteht ständig neu, indem durch Vulkanismus am Meeresboden Materie aus dem Erdmantel herausdringt und an der Oberfläche erstarrt. Wie auf einer schiefen Ebene gleitet die Erdkruste darauf ab; so schiebt sie im Atlantik die Kontinentalplatten vor sich her oder, wie an den Rändern des Pazifiks, unter die angrenzenden Erdteile.

Von dieser Dynamik im Erdinneren wusste man zu Wegeners Zeiten noch nichts - daher die Skepsis, die ihm entgegenschlug. Doch er akzeptierte für sich auch theoretische Überlegungen, um ein Phänomen zu erklären. Insofern, sagt Wissenschaftshistoriker Krause, war Wegener nicht nur Visionär, sondern auch Vordenker moderner Wissenschaft. Jedenfalls so, wie sie sein sollte - wenn ein neuer Wegener kommt und alles infrage stellt.