Das Internet ist nur eine Spielwiese, das Kino nur eine Mode: Lesen Sie hier die peinlichsten Fehleinschätzungen der Geschichte.

Das Kino ist nur eine Modeerscheinung, ein Drama in Dosen", befand Charlie Chaplin im Jahr 1916. "Was die Leute wirklich sehen wollen, ist Fleisch und Blut auf der Bühne." Warum er die Zukunft des Spielfilms so pessimistisch sah, bleibt ein Rätsel. Immerhin hatte er selbst damals schon ein paar erfolgreiche Kinofilme gedreht, unter anderem "The Tramp". Seine Prognose war falsch.

Da ist er in bester Gesellschaft. "Tiergeschichten lassen sich in den USA unmöglich verkaufen", beschied der Verleger Alfred A. Knopf 1943 einem jungen Autor und lehnte dessen eingereichtes Manuskript ab, Titel: "Farm der Tiere". Knopf hat den Text wohl gar nicht gelesen, denn wenn George Orwells Roman etwas nicht ist, dann eine "Tiergeschichte". Jedenfalls war es später dann auch nicht Knopf, der 1945 an dem Welterfolg verdiente.

Wahrscheinlich gibt es kaum einen Verlag, dessen Geschäftsleitung nicht vor Wut in den Tisch gebissen hat, wenn ein abgewiesener Text dann bei der Konkurrenz zum Bestseller wurde, schreibt Jürgen Brater in seinem neuen Buch "Keine Ahnung, aber davon viel". Plattenfirmen kann es ähnlich gehen, zeigt Brater am Beispiel der britischen Decca. Vor der Geschäftsführung spielte 1962 eine Newcomerband, The Beatles. Hinterher beschied Decca-Analyst Dick Rowe: "Uns gefällt ihr Sound nicht, und Gitarrenmusik ist ohnehin nicht gefragt." Auch The Yardbirds und Manfred Mann fielen bei der Decca durch - lauter Fehleinschätzungen.

Brater beschränkt sich in seinem Buch über "die peinlichsten Prognosen der Welt" nicht auf den Kulturbetrieb. So gut wie jede Branche ist betroffen. Sein frühestes Beispiel stammt aus dem Mittelalter: "In sieben Jahren wird die Welt mit verheerenden Erdbeben und Stürmen untergehen", warnte 1179 der Erzbischof Johannes von Toledo, der als Astronom in ganz Europa beachtet wurde. Seine Prophezeiung löste eine Art Massenhysterie aus, schreibt Brater: "In Deutschland grub man Unterstände, der Kaiser von Byzanz ließ sämtliche Fenster seines Palastes zumauern, der Erzbischof von Canterbury ordnete sogar dreitägiges Fasten an..." Erst 1187 wurde deutlich, dass sich Johannes schlicht geirrt hatte.

Auf die Idee zu seiner Fehlprognosensammlung kam Brater, als er sich intensiv mit Naturwissenschaftlern befasste: "Da stellte ich fest, dass sogar Koryphäen wie Einstein mit einigen Prognosen vollkommen danebenlagen", sagt Brater im Abendblatt-Interview. Manchmal ist dieses Danebenliegen verständlich, oft aber auch ein Zeichen von Wunschdenken oder Selbstüberschätzung. Danach klingt es jedenfalls, wenn wir heute wöchentlich hören, nun seien der Euro/die Wirtschaft der Euro-Zone aber wirklich gerettet und die Bekämpfung der Finanzkrise vollbracht. Nur um Tage später zu erfahren, dass ein nächster Rettungsgipfel unausweichlich sei. Aber ähnlich ratlos waren Experten schon vor dem großen Börsencrash 1929: "Die Aktien haben offenbar ein dauerhaft hohes Niveau erreicht", hatte der US-Ökonom Irving Fisher an der Universität Yale damals noch gemutmaßt.

Dass Albert Einstein 1932 noch nicht an die Atomkraft glaubte, erscheint dagegen fast verzeihlich: "Es gibt nicht das geringste Anzeichen, dass wir jemals Atomenergie entwickeln können." Zwar wussten Physiker damals schon, dass in dem aus Protonen und Neutronen zusammengesetzten Kern eines Atoms ungeheure Kräfte verborgen sind. Aber niemand wusste, wie diese Kräfte freigesetzt werden könnten.

Am schwersten haben es Forschungspioniere. Als der deutsche Meteorologe und Polarforscher Alfred Wegener die Theorie der Kontinentalverschiebung entwickelte, schätzten Kollegen ihn als Spinner ein. Er war immer mehr überzeugt von der Existenz eines einzigen, riesigen Ur-Kontinents, Pangäa, dessen zerfallende Teile auf der Erdkruste auseinanderdrifteten. 1912 auf der Jahresversammlung der Geologischen Vereinigung löste Wegener damit "einen gewaltigen Skandal aus", schreibt Brater. Der prominente deutsche Paläontologe Hermann von Ihering meinte: "Wegeners Theorie ist ein Fantasiegebilde, welches wie eine Seifenblase vergehen wird." Das Gegenteil traf ein - heute ist die Kontinentaldrift bewiesen.

Das 20. Jahrhundert erweist sich im Rückblick geradezu als Brutschrank für Fehlprognosen. Denn es begann nicht nur mit bahnbrechenden Erkenntnissen in Medizin, Mikrobiologie, Chemie, Technik und Physik, sondern zeitgleich entstand auch eine wachsende Öffentlichkeit, die informiert werden wollte. So entwickelten sich Expertenstämme, die mit Einschätzungen und Prognosen auf sich aufmerksam machen. Und sich dabei oft weiter aus dem Fenster hängen als nötig. "In 40 Jahren wird es auf dem Mars Städte unter riesigen Plastikkuppeln geben, in denen irdische Bedingungen aufrechterhalten werden", behauptete 1966 ein leitender Mitarbeiter der US-Raumfahrtbehörde Nasa, wahrscheinlich euphorisiert von den Landungen der ersten unbemannten Mondsonden. Bisher jedenfalls steht auf dem Mars keine einzige Plastikkuppel. Die größten Fehleinschätzungen wachsen überhaupt auf dem Feld der Technik. "Das Pferd wird es immer geben. Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung", orakelte der deutsche Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1906. Haha.

Blauäugigkeit begleitete selbst die findigsten Köpfe der Kommunikationstechnologien. 1943 glaubte der IBM-Präsident Thomas J. Watson, "dass es einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer gibt". Dabei wuchs der Bedarf an Großrechnern ständig. 1979 hielt der Chef der kanadischen Computerfirma Sharp E-Mails für "ein total unverkäufliches Produkt". Der frühere Philips-Chef Jan Timmer fragte 1982 allen Ernstes: "Wer braucht eigentlich diese Silberscheibe?" und meinte die Compact Disc.

Sogar der recht marktsichere Apple-Gründer Steve Jobs hat sich mal geirrt. Über Laptops sagte er 1985 in einem "Playboy"-Interview noch: "Für den Durchschnittsnutzer sind diese Geräte unnütz, und es gibt auch kaum Software dafür." Microsoft-Kollege Bill Gates lag nicht weniger falsch, als er das Internet 1995 "nur einen Hype" nannte, "damit verdient man niemals Geld". Das Internet sei "nur eine Spielwiese für Computerfreaks", assistierte der ehemalige Telekom-Chef Ron Sommer 1992. "YouTube wird ein Reinfall", glaubte Steve Chen, Mitbegründer des Videoportals, "es gibt einfach nicht so viele Videos, die ich anschauen möchte." Milliarden YouTube-Fans möchten. In der Politik sind Fehlentscheidungen mittlerweile so häufig, dass sie gar nicht mehr auffallen. Oder erinnert sich heute noch jemand daran, dass Bundeskanzler Konrad Adenauer 1961 sagte: "Es ist der sichere Untergang, wenn die Bundeswehr keine Atomwaffen hat?" Die britische Konservative Margaret Thatcher glaubte 1974, es werde "noch viele Jahre dauern - und dies nicht zu meinen Lebzeiten -, bevor eine Frau britische Premierministerin wird." 1979 wurde sie es.

Geheimdienste sollten eigentlich wissen, ob sich große politische Veränderungen oder Verwerfungen ankündigen. Aber 1989 wurden sowohl die amerikanische CIA wie auch der russische KGB vom Mauerfall vollkommen überrascht. Genauso überrascht wurden sämtliche amerikanischen Geheimdienste von den Terroranschlägen im September 2001. Und die Geheimdienste der arabischen Länder mussten fassungslos den Arabischen Frühling 2011 miterleben. Diese Ahnungslosigkeit wird nur noch übertroffen von der einer berufsmäßigen Wahrsagerin: Elizabeth Teissier. Sie prophezeite dem früheren Chef des Internationalen Währungsfonds Dominique Strauss-Kahn für 2011 "ein geniales Jahr", sogar das "Jahr seines Lebens". Strauss-Kahn wird sich herzlich bedanken.

Einzelne Irrtümer werden schnell vergessen - aber in geballter Form machen sie doch nachdenklich. "Man wird skeptisch gegenüber all den Expertenwahrheiten", sagt Autor Jürgen Brater. "Nur weil es ein Experte gesagt hat, muss es noch lange nicht richtig sein. Wir sollten nicht so gutgläubig sein."