Um 13.06 Uhr knallten in Genf und Hamburg die Sektkorken: In diesem Moment registrierten die Hightech-Detektoren im weltgrößten Teilchenbeschleuniger LHC am europäischen Kernforschungszentrum Cern Zusammenstöße, denen die Physiker seit Jahren entgegenfieberten.

Genf/Hamburg. Fast in Lichtgeschwindigkeit ließen sie Atomkernteilchen (Protonen) mit einer Rekordenergie von sieben Billionen (Tera-)Elektronenvolt (TeV) aufeinandertreffen, um im nun laufenden Betrieb die dabei frei werdenden Elementarteilchen zu erforschen. Der Zusammenprall im Mikrokosmos des 27 Kilometer langen ringförmigen Teilchenbeschleunigers markiert nach jahrelangen Bauarbeiten und Probeläufen den Beginn der Forschungsarbeit.

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"Das hat super geklappt", kommentiert Prof. Joachim Mnich, Direktor für Teilchenphysik am Hamburger Großforschungszentrum Desy, das Ereignis im Schweizer Jura. Die Hamburger sind mit zwei großen Experimenten am LHC beteiligt - deshalb warteten gestern bis zu zwei Dutzend Forscher des Desy (Deutsches Elektronen Synchrotron) und der kooperierenden Universität Hamburg gespannt vor den Kontrollmonitoren auf die Rekord-Kollision. Sie soll den Forschern Einblicke in das Innerste der Materie geben. Ihre kleinsten Bausteine, die Elementarteilchen (am bekanntesten sind die Quarks), sind bislang nur zum Teil erforscht.

Ein Teilchen interessiert die Forscher besonders: Das Higgs-Boson besteht bislang nur in der Theorie. Benannt ist es nach dem Edinburgher Professor Peter Higgs, der die Existenz des Teilchens aufgrund theoretischer Überlegungen vorhergesagt hat. Mit dem Winzling steht und fällt das heutige Modell der Teilchenphysik. Denn es kann bislang nicht erklären, was der Materie ihre Masse verleiht. Diese Funktion soll nach der Theorie das Higgs-Teilchen erfüllen. Nun hoffen die Forscher, das Teilchen mithilfe des 4,5 Milliarden Euro teuren LHC (Large Hadron Collider) aufspüren zu können.

"Das Higgs-Boson hat sich höchstwahrscheinlich in der am schwersten zu erreichenden Ecke versteckt", sagt Joachim Mnich. "Deshalb müssen wir die Protonen mit bislang unerreicht starker Energie kollidieren lassen." Sie war gestern bei den Zusammenstößen im LHC mit rund sieben TeV gut dreimal höher als der bisherige Rekordwert aus den USA (zwei TeV). Aber die Kollisionsrate ist mit etwa 400 Zusammenstößen pro Sekunde noch sehr niedrig - Ziel der Forscher sind eine Milliarde Kollisionen pro Minute. Um dies zu erreichen, muss die Zahl der durch den Ring rasenden Protonen deutlich erhöht werden, zudem wollen die Forscher die Energie des Zusammenpralls noch einmal verdoppeln. Mnich erwartet deshalb, dass die Higgs-Bosonen noch nicht in den nächsten zwei Jahren nachgewiesen werden können.

Für die Kollisionen müssen die Winzteilchen mit annähernd Lichtgeschwindigkeit durch den Teilchenbeschleuniger-Ring sausen. Riesige Magneten halten sie dabei auf Kurs. Diese müssen supraleitend sein, damit die Ströme ohne elektrischen Widerstand fließen. Dazu muss der gesamte Ring, der bis zu 175 Meter unter dem Genfer Umland liegt, auf minus 271 Grad heruntergekühlt werden. Insgesamt verbraucht der weltgrößte Teilchenbeschleuniger so viel Strom wie 240 000 Haushalte.

Die Physiker lassen im LHC Bedingungen entstehen, wie sie kurz nach dem Urknall vorherrschten. Kritiker fürchten, dass dabei Schwarze Löcher entstehen, die ähnlich wie die großen Brüder im All alle Materie in sich verschlingen und so zum Weltuntergang führen. Mnich sieht keinen Anlass zur Sorge: "Es ist zwar nicht erwiesen, aber zumindest theoretisch denkbar, dass winzige Schwarze Löcher entstehen. Doch ihre Lebenszeit ist unvorstellbar gering, sie können deshalb keinen Schaden anrichten." Wer nur etwa eine Milliardstel einer Milliardstel Sekunde existiert, hat keine Zeit, Atomkerne anzuziehen, geschweige denn den blauen Planeten zu verschlingen.

Joachim Mnich nennt noch ein zweites Argument: "Im LHC machen wir nichts anderes als das, was in der Natur dauernd passiert. Wir werden von kosmischer Strahlung bombardiert, die viel stärker ist als die im Cern erzeugte."

Am Dienstag war kein Raum für Schwarze Löchlein. "Wir sind sehr glücklich" sagte Cern-Generaldirektor Rolf-Dieter Heuer nach dem Gelingen des Experiments. Dem deutschen Wissenschaftler war die Erleichterung anzusehen, als er den Kollegen in Genf seine Glückwünsche per Videokonferenz aus Japan überbrachte. Der ehemalige Desy-Forschungsdirektor war im Januar 2009 zur Schweizer Teilchen-Metropole gewechselt.

An seiner alten Wirkungsstätte in Bahrenfeld gab es ebenfalls glückliche Gesichter: "Jetzt beginnt die eigentliche Forscherarbeit, die Ernte dessen, was wir in zehn Jahren Vorbereitung gesät haben", sagt Mnich. Zufrieden steht er im sogenannten CMS-Kontrollraum. CMS steht für eines der vier Experimente, die am LHC durchgeführt werden. An ihm sind die Hamburger unmittelbar beteiligt. "Wir überprüfen die Qualität der erhobenen Daten", erklärt CMS-Gruppenleiterin Kerstin Borras. "Wenn etwas nicht stimmt, können wir von Hamburg aus eingreifen, einige Detektorkomponenten sogar direkt ansteuern." Das Datenmanagement teilen sich die Hamburger mit den Genfer Kollegen sowie Physikern der US-Forschungseinrichtung Fermilab bei Chicago. Täglich von 13 bis 19 Uhr liegt das Experiment damit von nun an auch in Hamburger Händen.