1906 begann im “Kolonialinstitut“ die Wissenschaft über Chinas Sprache und Kultur - bis heute ein Kampf gegen Vorurteile.

Die einen fürchten China als Drachen, der mit seinem Rohstoffhunger die Welt verschlingt, Produkte und Technologie kopiert, die anderen bestaunen es als Hort einer jahrtausendealten Kultur. Um China ranken sich viele Mythen. Das Reich der Mitte ist ein Kontinent der Gegensätze. Sie zu ergründen ist ein Ziel der Sinologie. Die Wissenschaft, die erstmals vor 100 Jahren in Hamburg ihre Arbeit aufnahm, stand im Mittelpunkt des 53. Hamburger Wissenschaftsforums. Zu diesem hatten NDR 90,3 und Abendblatt in das Hauptgebäude der Uni Hamburg geladen.

Aus Neugier über das ihr fremde, unbekannte Asien studierte Dr. Sarah Kirchberger, Leiterin des Ressorts Marktforschung bei TKMS Blohm+Voss, Sinologie. "Ich bin begeistert dort hängen geblieben, obwohl es ein anstrengendes Studium ist." So muss jeder Studierende in Hamburg das klassische Chinesisch und das moderne Hochchinesisch lernen. China ist bis heute ein Teil ihrer Arbeit geblieben - und dabei trifft sie immer wieder auf Mythen. Besonders hartnäckig halte sich der Mythos, "Chinesen seien psychologisch anders, wären kollektivistische Menschen, eben 'blaue Ameisen'. Das halte ich für ein eklatantes Vorurteil", sagte Kirchberger. Im Arbeitsleben habe dieser Mythos zur Folge, dass Manager nach einem zweiwöchigen Crashkurs nach China geschickt würden, um dort ein Werk zu leiten - schließlich sei, so die Argumentation, die Kultur so fremd, dass man sie nicht verstehen könne. "Also versucht man es erst gar nicht. Das ist fatal."

China scheint ein Punkt zu sein, an dem sich Mythen kristallisieren, stellte Prof. Kai Vogelsang fest. Der Sinologe forscht und lehrt zur Geschichte und Gesellschaft Chinas. Er nennt drei Mythen, denen Sinologen immer wieder begegnen. Erstens, die chinesische Schrift bilde, anders als alle anderen Schriften, keine Sprache, sondern nur Ideen ab. Zweitens, die chinesische Mauer, trutzig, 6000 Kilometer lang, gebe es seit 2000 Jahren ohne Lücke. Nummer drei sei der Mythos der 5000-jährigen Geschichte Chinas. Der forschende Blick in originalsprachliche Quellen widerlegt diese Mythen. "Sieht man sich die chinesischen Zeichen an, merkt man schnell, dass nur ein sehr geringer Teil als Bild zu verstehen ist. Die Schrift ist vielmehr wie alle anderen Schriften an Sprache gebunden. Studiert man die Quellen zur Chinesischen Mauer, stellt man fest, dass es nicht immer nur eine Mauer gegeben hat, sondern unterschiedliche Mauern. Sie wurden zusammengefügt, zerfielen, wurden restauriert oder ignoriert. Die Mauer, wie wir sie heute kennen, entstand erst im 16. Jahrhundert. Rekonstruiert man die chinesische Geschichte aus den Quellen, ergibt sich, dass man nicht für 5000, sondern nur für 3000 Jahre schriftliche Quellen hat. Die ältesten Schriften stammen aus der Zeit um 1200 v. Chr."

Doch es sind nicht nur Mythen, die den Blick trüben. "Eine der Hauptbarrieren, um China überhaupt angemessen verstehen zu können, ist, dass wir, selbst wenn wir es manchmal besser wissen, unterstellen, China bilde eine Einheit, räumlich und zeitlich", erläuterte Prof. Michael Friedrich, dessen Schwerpunkt Sprache und Literatur Chinas ist. Diese Sichtweise sei falsch. "Seit der ersten Einigung Chinas um 200 v. Chr. hat es auf chinesischem Boden phasenweise bis zu 15 oder 20 Staaten gegeben." Bis heute sei China ein Vielvölkerstaat, kein Nationalstaat wie Deutschland. Wenn wir also unsere Lebenswelt, unsere Erwartungen und Vorstellungen auf dieses Reich projizieren, verstellen wir uns den Blick. Diese naive Sichtweise führe zur Quelle eines zweiten Missverständnisses. In Deutschland gebe es ein gebrochenes Verhältnis zu unserer Tradition. Wir gingen davon aus, dass die Kritik an der eigenen Geschichte dazugehöre, "und können uns nicht vorstellen, dass es in anderen Regionen der Erde anders aussieht" .

Um die Urteilsfähigkeit zu schärfen, müsse man genau hingucken, forderte Vogelsang. Die Festwoche zu 100 Jahren Sinologie in Hamburg, die im Ostflügel des Uni Hauptgebäudes begangen wird (21.9.-26.9.), soll neue Blicke eröffnen und zeigen, dass die Hamburger Sinologen in einem sehr positiven Umfeld forschen und lehren. So ist der Hafen das Zentrum der deutschen Chinawirtschaft, "in manchen Aspekten sogar das europäische", erläuterte Friedrich. Die Kontakte der Sinologen zu Unternehmen, die in Ostasien und China aktiv sind, seien fruchtbar. Es gibt in Bezug auf Forschung und Studium Kooperationen mit wissenschaftlichen Institutionen in Hamburg, in Europa, China und in Japan. Nicht zuletzt auf diesen Aktivitäten beruhe der exzellente Ruf der Hamburger Sinologen.

In Zukunft wollen die Hamburger zur Stadtentwicklung und zur Rolle des Internets in China forschen - damit nicht neue Mythen entstehen.

Das Forum im Radio: "China zwischen Verklärung und Erklärung", NDR 90,3, "Abendjournal Special", 19.9., 19.05-20 Uhr. Der Kongress (21.-26.9) im Internet: www.aai.uni-hamburg.de/china/