Diesen Monat ist es 2000 Jahre her, dass die Römer ihre entscheidende Niederlage in Germanien erlitten. Ihr Anführer ging als der Verlierer schlechthin in die Geschichte ein. Jetzt revidieren Historiker das harte und vorschnelle Urteil. Wir stellen den Feldherrn vor, wie er wirklich war.

Diese Wut! Diese Verzweiflung! Diese Klage! "Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder!" Der greise Kaiser Augustus soll das herausgeschrien haben. Glaubwürdig ist das, aber so genau wissen wir es nicht. Ebenso wenig, ob der Kaiser bei diesen Worten (wahlweise) seinen Kopf gegen die Wand geschlagen hat oder völlig zusammengebrochen ist. Wahrscheinlich aber hat er zumindest die Fassung verloren. Der Biograf des damals 72 Jahre alten obersten Kriegsherrn hat das weltberühmte Zitat überliefert, auf Latein: "Quintili Vare, legiones redde!" So viel ist sicher: Die Nachricht hat den Kaiser in Rom schwer erschüttert, damals, irgendwann im September des Jahres 9 nach Christus, also vor ziemlich genau 2000 Jahren.

Denn verloren waren drei Legionen, vermutlich mehr als 20 000 Mann, die Elite der römischen Armee. Und Varus gleich mit. Denn er, der als Statthalter in Germanien die Truppe kommandierte, stürzte sich ins Schwert, als er die Aussichtslosigkeit seiner und der Lage seiner Kämpfer erkannt hatte.

Varus, der Verlierer schlechthin. Mit diesem miserablen Ruf verewigte ihn die Weltgeschichte. Doch das vernichtende Urteil wird ihm nicht gerecht. Denn Varus war in Wahrheit ein ganz anderer, auch wenn sein unrühmliches Ende den Blick auf sein wahres Wesen trübt.

Die Einzelheiten seines Ichs sind jetzt im Zuge des 2000-Jahre-Jubiläums der nach ihm benannten Varusschlacht wissenschaftlich aufgelistet und neu bewertet worden. Eine faszinierende Persönlichkeit kommt da zum Vorschein.

"Kaum jemand weiß, dass dieser Varus vorher eine beispiellose Karriere hingelegt hat", sagt Dr. Josef Mühlenbrock, der Leiter des Archäologie-Museums in Herne. Vorher bedeutet: vor der Schlacht in den dichten und morastigen Wäldern Germaniens, vermutlich bei Kalkriese nördlich von Osnabrück.

Publius Quinctilius Varus stammt aus einer der vornehmsten Familien Roms, damals wie heute nicht ganz unbedeutend für die Karriere. Männer des Geschlechts der Quinctilier finden sich über Generationen in den höchsten Ämtern der Republik. Sein Vater, Sextus Quinctilius Varus, kämpft an der Seite Pompeius' in den Bürgerkriegen gegen Cäsar, der ihn nach seiner Gefangennahme begnadigt und freilässt. Dennoch kämpft er später auf der Seite der Cäsarenmörder und lässt sich töten, als sich deren Niederlage abzeichnet.

Der junge Varus wächst bei Verwandten auf. Ihm werden enge Kontakte zu Künstlern und Literaten nachgesagt, so zu Maecenas, dem Förderer von Kunst und Literatur, dessen Name im Wort Mäzen bis heute erhalten ist.

In jungen Jahren bekleidet Varus vermutlich einen Posten in der Zivilverwaltung oder beim Militär, den typischen Startpositionen adliger Familien Roms. Jedenfalls gehört er zum Umfeld des Princeps, des Kaisers Augustus. Varus heiratet eine Tochter des Agrippa, der als der beste Freund des Augustus gilt.

Historisch gesichert ist Varus' Platz im Gefolge des Kaisers, als dieser drei Jahre lang (bis 19. v. Chr.) durch den Osten des Reiches zieht. Varus ist sein persönlicher Finanzfachmann ("Quaestor Augusti") und wird Zeuge eines großen "Sieges". Augustus bezwingt den König der Parther, Phraates IV., der ihm erbeutete Feldzeichen zurückgibt und die Vorherrschaft Roms akzeptiert - ohne Blutvergießen, ein diplomatisches Meisterstück der Geschichte.

Mit Geschick Siege erringen - das wird Varus später selbst nachgesagt. Als Prätor, der Recht spricht; als Konsul und Mitverantwortlicher für das gigantische Bauprogramm des Augustus; als Prokonsul in der bedeutsamen Provinz Africa, wo er für die Rechtsprechung, den Steuereinzug und die Sicherheit der Region verantwortlich ist.

Er gilt offensichtlich als umgänglicher Statthalter der römischen Besatzungsmacht. Die nordafrikanischen Städte Achulla und Hadrumetum prägen ihm zu Ehren Bronzemünzen mit seinem Konterfei. Die zeigen noch heute die einzig gesicherten Porträts des Mannes, der später so unrühmlich enden soll. Münzen mit römischen Statthaltern sind "vergleichsweise selten und zumeist Zeugnis einer besonderen Beziehung zwischen einem konkreten Statthalter und der Stadt", urteilt der Archäologe Achim Lichtenberger in einem wissenschaftlichen Aufsatz zur Ausstellung "2000 Jahre Varusschlacht"*.

In den Jahren 7 bis 4 vor Christus ist Varus Verwaltungschef der Provinz Syrien. Dort befehligt er vier Legionen an strategisch wichtiger Stelle. Denn es gilt, bedeutsame Handelsrouten zu kontrollieren und die Parther, den gefährlichsten Gegner der Römer im Osten, jenseits der Grenzen des Imperium Romanum zu halten,

Dass Varus acht Jahre zuvor beim Alpenfeldzug eine Legion gegen keltische Stämme angeführt hat, kommt ihm jetzt zugute. Der Mann Roms ist nicht nur ein ausgefuchster Verwaltungsexperte, sondern auch ein Militärführer, der nicht zögert, römische Interessen hart durchzusetzen. So lässt er im benachbarten Judäa Aufstände nach dem Tode des Königs Herodes brutal niederschlagen.

Ein Jahr zuvor hat er Herodes im Verfahren gegen dessen Sohn Antipater beraten, dem ein Mordplan gegen den König angelastet und der daraufhin zum Tode verurteilt wurde.

Varus tritt als Richter in lokalen Streitigkeiten auf, ein Verhalten, das ihm später auch in Germanien vorgehalten wird. Trotzdem gilt Varus nicht als Draufgänger. "Er verkörpert eher den ruhigen Typ", beschreibt der Freiburger Professor und Kenner der altrömischen Geschichte, Hans Ulrich Nuber. Das legen die auf den Münzen überlieferten Konterfeis des Varus nahe.

Seine nicht gerade herrschaftliche Physiognomie hat Historiker zu obskuren Urteilen verleitet. "Das bartlose Gesicht mit der graden Stirn, der großen, spitzen Nase, den weit zurücktretenden Augen und dem blöden Zug um den Mund macht keineswegs einen bedeutenden oder auch nur angenehmen Eindruck", ätzt 1902 der Althistoriker Victor Gardthausen. Der Eindruck verstärke sich bei näherem Hinsehen: "Das breite Gesicht und der fette Hals lassen auf einen wohlbeleibten, phlegmatischen Herrn schließen, der sich weder geistig noch körperlich gern anstrengte oder aufregte."

Der Münsteraner Archäologie-Professor Dieter Salzmann sieht diese vernichtende Charakterstudie "stark beeinflusst durch die literarische Quelle" des römischen Geschichtsschreibers Velleius Paterculus, der Varus unterstellt, er sei "von milder Gemütsart, ruhigem Temperament, etwas unbeweglich an Körper und Geist, mehr an müßiges Lagerleben als an den Felddienst gewöhnt".

Auch wenn die Münzen nur einen ungefähren Eindruck vermitteln, wie Varus tatsächlich ausgesehen hat, scheint naheliegend: Er war wohl nicht die stattlichste Erscheinung. Aber macht ihn das unsympathischer? Erschiene er vielleicht attraktiver, wenn er als glorreicher Sieger in die Geschichte eingegangen wäre?

Verlierer haben es immer schwer. Aber wir sollten die wahre Größe Varus' sehen. Sein Untergang, nicht zuletzt durch einen Hinterhalt germanischer Stammesverbände, wirkt bis heute nach.

Europa sähe wohl anders aus, wenn die Römer vor 2000 Jahren ihr Machtgebiet bis an die Elbe oder sogar darüber hinaus erweitert hätten.

Als sich der besiegte Varus nach römischer Tradition ins Schwert stürzte, war er Mitte 50, ziemlich alt für den Befehlshaber einer antiken Kampftruppe. Seine Lebensleistung hatte er zu diesem Zeitpunkt schon lange erbracht. Aber davon wollte nach seinem Niedergang niemand mehr etwas wissen.

Unter dem Titel "2000 Jahre Varusschlacht" sind drei Bände erschienen: "Imperium", "Mythos" und "Konflikt" (LWL-Römermuseum in Haltern am See, Theiss Verlag, je 29,90 Euro).