Anästhesisten diskutieren vor allem das Risiko von Entwicklungsstörungen bei kleinen Kindern. Narkosen können aber auch Ältere beeinträchtigen.

Hamburg/Leipzig. Ein mögliches Risiko von Hirnschäden durch Narkosen sorgt in der Ärzteschaft für Diskussionen. Auf dem Deutschen Anästhesiekongress in Leipzig spitzte der Titel eines Symposiums das Thema zu und fragte: Macht Narkose dumm? Über Hinweise, dass Narkosemittel die Entwicklung von Kindern stören, wenn sie in frühen Jahren verabreicht werden, und über spezielle Empfindlichkeiten von älteren Menschen und auch von Frauen auf Narkosen sprach das Abendblatt mit Hamburger Experten.

Hinweise darauf, dass Narkotika Hirnzellen bei Kindern schädigen könnten, hätten sich zunächst bei Studien an Ratten gezeigt, sagt Prof. Alwin Goetz vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). So wurden in einer US-Studie sieben Tage alte Ratten für sechs Stunden mit in der Kindermedizin gängigen Mitteln narkotisiert. Das Ergebnis: Es kam zum Untergang von Nervenzellen (programmierter Zelltod), Gedächtnis- und Lernstörungen. "Die Frage ist nun: Sind diese Ergebnisse auf den Menschen übertragbar? Wir haben keine handfesten Daten darüber", sagt Goetz.

Die Rattenstudie ist knapp zehn Jahre alt, weitere Tierstudien folgten. Und auch bei Menschen wurde unter die Lupe genommen, welche Auswirkungen Narkosemittel auf das Gehirn haben könnten. Eine US-Studie erfasste Kinder, die in den ersten drei Lebensjahren eine Operation wegen eines Leistenbruchs hatten. Gegenüber Kindern einer Kontrollgruppe hatten sie ein mehr als doppelt so großes Risiko, später Verhaltensstörungen zu entwickeln. Eine dänische Untersuchung befasste sich mit Jugendlichen in der neunten Klasse, die in ihrer Kindheit an einem Leistenbruch operiert worden waren. Fazit hier: Ergebnisse von schulischen Tests waren bei diesen Kindern mit denen in einer Kontrollgruppe vergleichbar.

In einer zurückschauenden Analyse eines Geburtenregisters in den USA zeigte sich: Eine einzelne Narkose vor dem vierten Lebensjahr war nicht mit einem erhöhten Risiko von Lernschwierigkeiten verbunden, zwei oder mehr Narkosen waren es jedoch schon. "Unklar ist, ob dieser Effekt wirklich der Narkose zuzuschreiben ist. Auch die Krankheit, die zu den Operationen geführt hat, die Schmerzen, andere Medikamente oder der Krankenhausaufenthalt könnten einen Einfluss auf das Lernverhalten haben", sagt Prof. Gunter Nils Schmidt von der Asklepios Klinik Altona. "Mit großer Spannung werden die Ergebnisse von mehreren großen Studien erwartet, die die noch offenen Fragen klären sollen."

+++Narkose verstellt innere Uhr+++

Derzeit gebe es, so Schmidt, keinen sicheren Hinweis dafür, dass Kinder auch durch wiederholte Narkosen einen Schaden nähmen. In den USA gilt jedoch die Empfehlung, in den ersten drei Jahren keine Operationen durchzuführen, die verschiebbar sind.

Um besorgte Eltern und Ärzte durch die verwirrende Studienwelt zu führen, will die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) in diesem Jahr eine Stellungnahme herausgeben. "Eine kompetent durchgeführte Narkose führt nicht zu einem relevanten Schaden", sagt Dr. Karen Becke (Nürnberg), stellvertretende Sprecherin des Arbeitskreises Kinderanästhesie der DGAI.

Im Altonaer Kinderkrankenhaus nimmt man das Thema sehr ernst. "Solange wir nicht mehr wissen, operieren und narkotisieren wir so viel wie nötig - aber nicht mehr", sagt Dr. Bernd Schaarschmidt, Leitender Arzt der Pädiatrischen Anästhesiologie. "Fraglos müssen Blinddarmdurchbrüche oder schwere Verletzungen operiert werden. Bei längeren Operationen, etwa an der Wirbelsäule, mit einer OP-Dauer von bis zu zehn Stunden machen wir ein routinemäßiges Neuromonitoring. Das heißt, wir überwachen die Hirnströme des Kindes mit dem EEG und steuern die Narkose entsprechend."

Eine neuere Entwicklung sei, die Narkosen mit regionalen Anästhesien zu unterstützen. Schaarschmidt: "Bei Operationen etwa am Blinddarm, in der Leistengegend oder an den Genitalien, betäuben wir das Gebiet zusätzlich regional." Dadurch könnten die Ärzte Hypnotika und Schmerzmittel, die im ganzen Körper wirken, während des Eingriffs einsparen.

Doch nicht nur die jüngsten Patienten betrifft die Frage nach Gehirnbeeinträchtigungen, sondern auch Senioren. "Menschen jenseits der 60 haben oft kognitive Einschränkungen", sagt Goetz. Heute würden ältere Menschen zudem viel häufiger operiert als früher. Daten zeigen, dass Senioren nach einer Operation zusätzlich in ihren geistigen Leistungen beeinträchtigt sein können, etwa im Gedächtnis oder in der Konzentrationsfähigkeit. Die Rede ist vom "postoperativen kognitivem Defizit". Gefährdet sind diese Patienten je nach Ausprägung durch eine längere Bettlägerigkeit, sie müssen gegebenenfalls länger in der Klinik bleiben. Man habe jedoch keine genauen Daten darüber, ob beispielsweise Narkotika die entscheidende Rolle spielen, die Grunderkrankung der Patienten oder aber die gesamte OP-Situation, sagt Goetz. Zu Risikofaktoren zählen laut einem Fachartikel neben einem hohen Lebensalter auch Herzprobleme, Diabetes, Alkoholmissbrauch oder Depressionen.

US-Forscher hatten jüngst dazu aufgerufen, die kognitiven Fähigkeiten älterer Patienten vor einer Operation zu testen - so wie andere Körperfunktionen auch überwacht würden. Es gibt zudem Praxisempfehlungen, um dem Problem vorzubeugen, etwa die Vermeidung bestimmter Substanzen oder eine optimierte Schmerztherapie. "Wir wollen eine Stiftungsprofessur zur Gerontoanästhesiologie anregen, um uns dem Thema verstärkt in der Forschung widmen zu können", sagt Goetz.

Auch der Unterschied zwischen den Geschlechtern beschäftigt die Anästhesisten. "Frauen neigen eher zu Übelkeit nach einer Operation, sie reagieren sensibler auf Schmerzmittel und wachen bei bestimmten Narkotika schneller auf", sagt Goetz. Im Fachjournal "Der Anaesthesist" erschienen vor kurzem ein Artikel zu den "Gender-Aspekten". Demnach unterscheiden sich Mann und Frau in für Narkosen wichtigen Dingen wie Körperfettanteil, Herzmuskelmasse, Puls oder Lungenvolumen. Das Risiko für unerwünschte Arzneimittelreaktionen ist bei Frauen höher. Auch hier gibt es erste Handlungsempfehlungen, etwa zur Vorbeugung von Übelkeit.