Jeder vierte Deutsche hat schon einmal Ohrgeräusche wahrgenommen - auch wenn der Ton nur wenige Sekunden oder Minuten im Ohr bleibt.

Hamburg. Schluss mit dem Dauerkrach. Kein schrilles Pfeifen, helles Rauschen oder dumpfes Brummen mehr, einfach nur: Stille. Nichts wünschen sich Tinnitus-Patienten sehnlicher. Denn ihr Ohrgeräusch ist immer da, bei der Arbeit und beim Spazierengehen, beim Aufstehen und vor dem Schlafen; ein lästiger Quälgeist, der Angst machen und zermürben kann, der sich in den Vordergrund und andere Geräusche in den Hintergrund drängt.

Jeder vierte Deutsche hat Ohrgeräusche schon einmal wahrgenommen, ergab eine Untersuchung der Deutschen Tinnitus-Liga (DTL). Oft bleibt der Ton nur wenige Sekunden oder Minuten, doch in immer mehr Fällen geht er nicht mehr weg. Drei Millionen Menschen leiden hierzulande unter chronischem Tinnitus; in Hamburg sind etwa 100 000 Menschen betroffen, schätzt die DTL. Zunehmend betroffen sind Jugendliche und junge Erwachsene.

Wie Tinnitus entsteht, ist nicht eindeutig geklärt. Die meisten Mediziner gehen aber davon aus, dass die Ohrgeräusche durch eine Störung oder Schädigung der feinen Haarzellen in der sogenannten Schnecke hervorgerufen werden, dem Hörorgan im Innenohr. Als Auslöser gelten vor allem Lärm und Stress, die bei mehr als der Hälfte aller Betroffenen für den Tinnitus verantwortlich gemacht werden, wobei Lärm insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene betrifft, die ihren MP3-Player zu laut aufdrehen oder häufig in Diskotheken gehen. Stress als Tinnitus-Auslöser betrifft eher Erwachsene.

Daneben kommt eine Fülle weiterer Auslöser in Betracht: Verspannungen der Halswirbelsäulen- oder Kiefergelenksmuskulatur können Tinnitus begünstigen, ebenso Erkrankungen des Hörsystems wie Mittelohrentzündung oder Morbus Menière (Drehschwindel), außerdem psychische Faktoren wie Angst oder Übererregbarkeit. Tinnitus ist deshalb genau genommen keine Krankheit, sondern ein Symptom für körperliche oder psychische Probleme.

Wie genau kommt die Schädigung oder Störung der Haarzellen zustande? "Durch Lärm können die Haarzellen schlichtweg umknicken", sagt Prof. Rainald Knecht, Direktor der HNO-Klinik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). "Bei Stress wirken andere Mechanismen. Durch Verspannungen kann die Durchblutung reduziert sein, so gelangt weniger Sauerstoff zu den Haarzellen. Teilweise werden auch bestimmte Proteine ausgeschüttet, die den Haarzellen schaden."

Das Hören beginnt beim Trommelfell: Es fängt den Schall auf und leitet ihn über die Gehörknöchelchen des Mittelohres an das Innenohr weiter. Dort werden die mechanischen Schwingungen durch die Haarzellen in elektrische Nervenimpulse umgewandelt, die über die Hörnerven und die sogenannte Hörbahn zum Großhirn geschickt werden, wo das Hörzentrum sitzt. Erst dort entsteht der eigentliche Höreindruck.

Doch die Geräusche, die Tinnitus-Patienten hören, existieren außerhalb ihres Kopfes gar nicht, das Ohr kann sie also auch nicht hören. Woher kommen sie dann? "Wenn bestimmte Haarzellen gestört oder geschädigt sind, können sie den Schall nicht mehr ordnungsgemäß weiterleiten, im Gehirn kommt auf einer bestimmten Frequenz kein Ton mehr an. Deshalb erzeugt das Gehirn den Ton vermutlich selbst, quasi als Ausgleich. Das ist der Tinnitus", sagt Rainald Knecht. Dafür spreche, dass chronischer Tinnitus meistens mit einem Hörverlust einhergehe. "Der Tinnitus liegt dann genau auf der Frequenz, die der Patient schlecht oder gar nicht mehr hört."

Deshalb führt ein HNO-Arzt bei Patienten mit Ohrgeräuschen zuerst einen Hörtest durch. Stellt er eine Beeinträchtigung des Gehörs fest, kann er zusätzlich eine sogenannte Hirnstammaudiometrie, kurz BERA-Untersuchung, durchführen. Und er kann die Lautstärke messen, in der ein Patient den Tinnitus wahrnimmt. Dazu lässt der Arzt den Patienten einen Ton hören, der auf der gleichen Frequenz liegt wie das Ohrgeräusch. Dann stellt er lauter, bis der Ton das Geräusch überdeckt.

15 Dezibel - lauter kann der Tinnitus nicht werden. Das ist leiser als Blätterrascheln, doch weil das Geräusch im Kopf entsteht, kann es den Höreindruck dominieren. Eine Untersuchung des Kiefers zeigt, ob eine Gebissfehlstellung oder eine Erkrankung des Kiefergelenks vorliegt. Um eine Beteiligung der Halswirbelsäule am Tinnitus auszuschließen, können weitere orthopädische Tests sinnvoll sein.

Bei der Therapie gilt es, zwischen einem akuten und einem chronischen Tinnitus zu unterscheiden. Bei einem akuten Tinnitus, der einige Wochen andauern kann, ausgelöst etwa durch einen Hörsturz oder extreme Lärmbelastung, können durchblutungsfördernde Medikamente und Cortison-Infusionen wirksam sein. Sind Kiefer- oder Wirbelsäulenprobleme die Ursache, kann eine orthopädische Behandlung helfen.

"Gegen chronischen Tinnitus gibt es derzeit jedoch keine durchweg wirksame medizinische Therapie", sagt Rainald Knecht. Die Wirksamkeit von durchblutungsfördernden Präparaten wie Gingko-Biloba sei hier nicht erwiesen, auch für die meisten anderen, oft sehr teuren Therapieangebote - von Akupunktur über Laserbestrahlung und Magnetwellen bis zur Überdruckbehandlung - gelte: "Sie helfen nicht." Allein Cortison könne manchmal die chronischen Beschwerden lindern.

Was aber hilft den Dauergeplagten dann? "Bei schwerhörigen Menschen mit Tinnitus kann ein Hörgerät viel bewirken", sagt Knecht. Bei sehr lauten Ohrgeräuschen könne auch ein Tinnitus-Masker helfen, ein Gerät, das andere, angenehme Geräusche erzeugt, die den Tinnitus übertönen sollen. Doch selbst dadurch verschwinden die Ohrgeräusche meistens nicht ganz. Deshalb ist die wahrscheinlich wirksamste Therapie eine psychologische. Durch sie können die Betroffenen lernen, den Tinnitus zu akzeptieren - und schließlich zu ignorieren.

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