Auf dem Abendblatt-Forum erfuhren die Zuhörer, welche Rolle Stress bei Tinnitus spielen kann und was sich dagegen tun lässt.

Hamburg. "Mein Arzt hat gesagt, da kann man nichts machen." Das war der häufigste Satz, der an diesem Abend fiel, und er stand für das Ausmaß der Verunsicherung und Hilflosigkeit, mit der viele Tinnitus-Patienten zu kämpfen haben.

Mehr als 100 Abendblatt-Leser waren am Donnerstag in die Axel-Springer-Passage gekommen, um zwei Vorträge über Hörprobleme zu verfolgen. Manche litten erst seit Kurzem unter Tinnitus, so erzählten sie, andere seit Jahrzehnten. Ihre Fragen zeigten, dass sie sich teilweise von ihrem Umfeld nicht genug verstanden und von Ärzten oft alleingelassen fühlen. "Da kann man nichts machen" - müssen Patienten sich mit diesem Satz abfinden?

"Ich möchte Ihnen Mut machen: Sie sind dem Tinnitus nicht hilflos ausgeliefert. Sie können etwas ändern", sagte Prof. Stephan Ahrens vom Tinnitus-Zentrum Eppendorf. Ahrens, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, erläuterte ausführlich, was Tinnitus auslösen kann, wobei er einen Schwerpunkt auf die Psyche legte und die Rolle, die Stress dabei spielt.

Kann Tinnitus etwas mit der Psyche zu tun haben?

Immer mehr Menschen definierten sich hauptsächlich über Leistung, so Ahrens. Leistung bedeute Stress, und zu viel Stress könne überfordern. Einige Menschen bekämen durch Stress Magenprobleme, andere eine Migräne und wieder andere eben Tinnitus. Das Problem bei Tinnitus sei allerdings: "Wenn das Geräusch länger als sechs Wochen andauert, wird es oft im Gehirn fest programmiert und bleibt dort auf Dauer."

Warum fühlen sich manche Menschen sehr stark durch die Geräusche beeinträchtigt, andere aber gar nicht?

Es komme offenbar darauf an, wie die Wahrnehmungsfilter im Gehirn funktionierten, erläuterte Ahrens: "Bei einigen Menschen gewöhnt sich das Gehirn schnell an den Tinnitus, es blendet ihn aus und richtet seine Wahrnehmung ganz auf äußere Geräusche. Bei anderen Menschen funktioniert das nicht ohne Weiteres; ihr Gehirn schafft es nicht, den Störsender abzuschalten." Die Gründe für diese unterschiedliche Wahrnehmung seien noch nicht bekannt, sagte Ahrens.

Wie können Betroffene lernen, mit dem Tinnitus zu leben?

Ahrens: "Wir bringen unsere Patienten dazu, ihrem Körper - und damit auch ihrem Gehör - wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und den Tinnitus als Warnsignal zu begreifen. Wir helfen ihnen, einerseits besser mit Drucksituationen umzugehen und andererseits Rückzugsmöglichkeiten zu finden, Quellen der Erholung." Das könne für jeden Patienten etwas anderes sein: Sport, Bücher, Kino, Theater oder ein gutes Essen. Viele Menschen seien überlastet und so sehr mit Beruf, Familie oder mit beidem beschäftigt, dass für Körper und Geist kaum noch Zuwendung übrig bleibe, sagte Ahrens. "Das Gehirn ist bei solchen Patienten schlichtweg überlastet. Dann geht es darum, dem Gehirn wieder Freiraum zu verschaffen und es so in die Lage zu versetzen, den Tinnitus auszublenden."

Kann Tinnitus entstehen, weil man zu viel arbeitet?

Ahrens: "Es geht weniger um die Arbeitszeit an sich, sondern vor allem um die Einstellung - im Beruf ebenso wie im Privatleben." Wer sich nur über Leistung definiere - und manche Menschen täten das selbst in ihrer Freizeit - dem machten auch Fehler mehr zu schaffen, der tue sich schwer damit, gelassen zu bleiben, wenn es mal nicht perfekt laufe. "Gelassenheit ist aber das beste Mittel, mit dem Tinnitus umzugehen." Leichter gesagt als getan: Ist es nicht sehr schwer, seine Einstellung zu ändern? "Unsere Patienten spüren einen sehr großen Leidensdruck", so Stephan Ahrens. "Sie können durch den Tinnitus oft nicht mehr in Ruhe lesen, sich nicht mehr auf ihre Arbeit konzentrieren. Ich erlebe immer wieder, dass diese Leute sehr dankbar sind, wenn sie erkennen: Es gibt tatsächlich einen Ausweg, eine neue Tür, die wir mit ihnen öffnen können."

Grundsätzlich genüge es in der Regel jedoch nicht, sich auf einen möglichen - psychischen oder physischen - Auslöser zu konzentrieren: "Die Entstehung von Tinnitus ist sehr komplex, deshalb kann oft eine Kombination mehrerer Behandlungen nötig sein, etwa eine Hörtherapie und Entspannungsübungen." Auch wenn einige Anbieter dies versprächen: "Es ist falsch zu glauben, dass eine einzige Maßnahme, die eine Woche dauert, genügt, damit der Tinnitus verschwindet." Die kombinierten Behandlungen im Tinnitus-Zentrum Eppendorf dauerten etwa zwei Monate. Private Krankenkassen übernähmen die Kosten meistens ganz, gesetzliche Kassen oft zum Teil.

Was sind Hörverarbeitungsstörungen und wie werden sie behandelt?

Dr. Rosemarie Neumann von der Gemeinschaftspraxis Stephansplatz erklärte, was es mit den sogenannten Hörverarbeitungsstörungen bei Kindern auf sich hat: "Es handelt sich dabei um das Phänomen, dass das Gehirn Sprache nicht richtig verarbeitet. Betroffene Kinder verstehen das Gehörte oft nicht deutlich, sie sind leicht abgelenkt oder sehr schnell erschöpft, wenn sie sich auf etwas konzentrieren müssen, und deshalb haben sie oft Schwierigkeiten beim Sprechen, Lesen und Schreiben. Über die Ursachen ist noch wenig bekannt", sagte Neumann. Die Störung lasse sich erst zu Beginn der Schulzeit, ab etwa sieben Jahren, feststellen.

Werde die Störung nicht behandelt, bestehe die Gefahr, dass das Kind sich in der Schule schnell zurückziehe, weniger melde und engagiere, weil es sich missverstanden oder schlecht behandelt fühle. Etwa, wenn der Lehrer sage: "Das habe ich doch schon dreimal erklärt, hörst du denn nicht zu?"

"Das Wichtigste ist deshalb zunächst, die Zeichen für eine Hörverarbeitungsstörungen überhaupt zu erkennen und sie dann ernst zu nehmen." Dann könne der Störung wirkungsvoll begegnet werden, durch einfache Maßnahmen wie einen besseren Sitzplatz in der Klasse, und durch spezielle Hör- und Sprachtrainingprogramme bei einem HNO-Arzt.