Dortmund. Neues Jahr, neue Vorsätze. Platz eins: endlich abnehmen. Expertin Nicole Jäger erklärt, warum Diäten und gute Vorsätze nichts taugen.

Wenn es ums Abnehmen geht, weiß die Hamburgerin Nicole Jäger, wovon sie spricht. Die 33-Jährige hat ihr Gewicht von 340 Kilo auf 170 Kilo reduziert. In ihrem Buch „Die Fettlöserin“ berichtet sie von ihren Erfahrungen mit Diäten, gesellschaftlichem Druck und unsensiblen Ärzten. Sie erzählt ihren persönlichen Lebens- und Leidensweg. Obwohl sich in dem Buch beinahe alles um Ernährung und Gewichtsreduktion dreht, gibt Jäger ihren Lesern keine konkreten Tipps und keinen Diätplan an die Hand.

Im Interview spricht Nicole Jäger viel und mit großem Enthusiasmus. Sie erklärt, warum sie Diäten für untauglich hält, was sie über gute Vorsätze fürs neue Jahr denkt und wie der Weg zum Wunschgewicht aussehen muss. Sie versprüht dabei Witz und Charme. Kaum vorstellbar, dass diese Frau vor einigen Jahren mit 340 Kilogramm Gewicht in ihrem Bett lag und um ihr Leben fürchtete.

Hallo Frau Jäger, wie verbringen Sie als Abnehm-Expertin die Zeit von Weihnachten bis Neujahr?

Nicole Jäger: Ich arbeite. Und ich esse, aber nicht so viel. Ich treibe Sport, weil es gerade sonst niemand tut. Die Schwimmbäder sind noch nie so leer gewesen, weil alle erst bis zum neuen Jahr warten, um dann ihre guten Vorsätze umzusetzen und abzunehmen – nachdem sie vorher noch schnell fünf Kilo zugenommen haben.

An Weihnachten steht Essen ja sehr im Vordergrund. Das Weihnachtsmenü wird gerne schon im Sommer geplant. Wie läuft das bei Ihnen ab?

Jäger: Es ist Weihnachten! Es geht um Essen, um Tannenbäume, um Familie und um Geschenke! Es geht total um Essen in allen Varianten. Und in meinem Fall auch darum, da mit möglichst wenig Kriegsverletzungen durchzukommen. Ich habe wirklich keine Lust, nach Weihnachten auf die Waage zu steigen und zu sehen, dass mich drei Tage Gänsebraten um ein halbes Jahr zurückgeworfen haben. Ich esse gerne und viel, aber so, dass ich zumindest nicht fünf Kilo zunehme. Weihnachten ist die beste Zeit, um zu merken, dass zu viel Essen irgendwann wehtut. Über diesen Punkt esse ich nicht mehr hinaus.

Nicole Jäger ist die Fettlöserin
Nicole Jäger ist die Fettlöserin © Julia Löwe

Diesen Punkt haben Sie offenbar früher nicht gespürt.

Jäger: Gespürt schon, aber ich neige zu Exzessen – egal ob früher beim Sport oder später beim Essen. Es war mir egal, ob ich Muskelkater vom Sport oder Magenschmerzen vom Essen hatte.

Natürlich hat der Körper Grenzen, man kann die aber super ignorieren. Viele Menschen, auch solche, die sich nicht ernähren wie Junkies, denken nach einer Weile: „Och, jetzt ist mir gar nicht mehr schlecht, da geht ja noch was.“ Das habe ich in die Perfektion getrieben.

Sie haben bereits die guten Neujahrs-Vorsätze erwähnt. Was halten Sie davon?

Jäger: Gar nichts. Vorsätze sind dazu da, möglichst schnell ein schlechtes Gewissen zu haben. Vorsätze sind nicht durchdacht. Wer sich vornimmt, ab Neujahr mehr Sport zu machen, hat sich weder Gedanken darüber gemacht, welchen Sport er machen will, noch wann. Manche halten sechs Wochen durch, normalerweise ist am 3. Januar Schluss.

Aus Ihrem Buch geht hervor, dass nachhaltiges Abnehmen gut vorbereitet sein will. Was sind die wichtigsten Dinge, die man vor dem Abnehmen tun sollte?

Jäger: Man muss ehrlich sein. Und zwar so richtig ungeil ehrlich. Man muss eine Bestandsaufnahme machen und sich ehrlich eingestehen, wie schlecht man aussieht. Das heißt nicht, dass man sich schlecht fühlen muss. Aber wichtig ist, den Ausgangspunkt festzulegen. Man muss wissen, warum man sich so fühlt, wie man sich fühlt, und wo man hin will. Wenn ich 100 Menschen frage, warum sie abnehmen wollen, antworten sie: „Weil wir schlank sein wollen.“ Aber den wahren Grund kennen sie nicht. Das ist keine Kleidergröße, sondern zum Beispiel Lebensqualität.

Dann muss man sich im Klaren darüber sein, was man für ein Typ ist. Bin ich wirklich jemand, der sein Leben lang auf Kohlehydrate verzichten kann? Glaube ich nicht! Die Ziele müssen realistisch sein. Und dann muss man anfangen.

Sie gehen in Ihrem Buch sehr hart mit sich ins Gericht. Viele scheuen sich vielleicht vor so viel Offenheit und Schonungslosigkeit.

Jäger: Ja, das ist ein Problem. Das ist aber unnötig. Gerade übergewichtige Menschen verbringen ihr Leben damit, sich schlecht zu fühlen. Weil sie dick sind, weil sie viel essen, weil es ihnen schlecht geht. Die Angst vor Ehrlichkeit ist unbegründet und kommt daher, dass wir uns so gerne in einer Komfortzone bewegen. Wenn dann jemand ehrlich ist, löst das gerne Entsetzen aus: „Oh, sie hat ‘fett’ gesagt und spricht über überschüssige Haut.“ Ja, man darf sich schlecht fühlen, man darf auch darüber reden.

Wo ist der Unterschied zwischen Hänseleien oder gar Beschimpfungen von außen und der Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber? Müsste nicht beides Antrieb zum Abnehmen sein?

Jäger: Es kommt darauf an, wer etwas sagt. Wenn ich eine Bestandsaufnahme mache und mich im Spiegel ansehe, dann sehe ich da die vergangenen 33 Jahre. Ich sehe jedes Versagen und jeden Erfolg. Andere wissen das alles nicht, haben aber eine Meinung, die auf Vorurteilen und Dummheit basiert.

Sie schildern einige drastische Verhaltensweisen Ihres Umfelds mit Ihrem Gewicht. Angefangen bei Ihren Eltern über völlig Fremde bis hin zu Ärzten. Ist Ihre Darstellung überzogen oder ist die Welt wirklich so grausam zu Übergewichtigen?

Jäger: Die Situationen im Buch sind nicht ausgeschmückt. Wenn Sie zum Arzt gehen, stellen Sie Ihre Uhr um 100 Jahre zurück. Man geht zum Arzt, weil man Hilfe benötigt und gerät in eine Situation, in der man nur auf Ablehnung stößt und auf seine Körperlichkeit reduziert wird. Ich habe 170 Kilo abgenommen – wenn ich aber zum Arzt gehe, sagt der als erstes, ich solle abnehmen. Die Meinung dort ist, dass der Übergewichtige an allem selbst Schuld ist und nur krank ist, weil er dick ist. Ich kann aber auch Probleme mit meinem Körper haben, obwohl ich nicht übergewichtig bin.

Und wenn man dann um Hilfe bittet, wie man abnehmen soll, kommt als Tipp: „Mehr Sport.“ Ja, da wäre ich nie drauf gekommen. Die sollen Hilfe leisten und nicht aburteilen. Ich arbeite jeden Tag mit Menschen, die körperliche Erkrankungen haben und nicht behandelt werden, weil ihr Arzt sagt, das Gewicht sei schuld. Dann nehmen die 50 Kilo ab, sind aber immer noch krank, zum Teil schlimmer als vorher.

Wie kommt es, dass Ihre Geschichte nicht da endet, wo Sie beim ersten Arztbesuch beleidigt werden?

Jäger: Das war nicht das erste Mal, dass ich so eine Erfahrung gemacht habe, auch wenn es in diesem Fall sehr krass war. Ich war total unten und bekam so einen Schuss vor den Bug. Aber ganz banal: Ich hatte keine Lust mehr, mir beim Sterben zuzusehen. Und Jammern verbraucht einfach zu wenig Kalorien. Geholfen hat mir auch mein ausgeprägtes „Fuck you“-Gen. Ich wollte es der Ärztin einfach zeigen.

Sie beschreiben in Ihrem Buch Ihr Essverhalten ähnlich wie klassisches Suchtverhalten, inklusive Vereinsamung und Verschleierungs-Strategien. Macht Essen süchtig? Und wenn ja, was macht am Essen süchtig?

Jäger: Essen ist gar nicht das eigentliche Problem. Essen ist das Ventil. Essen war meine Wahl der Waffe. Ich hätte auch fixen oder rauchen können. Ich habe gegessen. Bei Essen geht es immer auch um Emotionen. Es geht um Heimat, um Gemütlichkeit. Bei sehr vielen Übergewichtigen gilt Essen als Kompensator, um Probleme wegzuessen, oder als positiver Verstärker, als Belohnung.

In unserer Gesellschaft ist Essen ja weit mehr als bloß Nahrungsaufnahme. Es ist Kultur, Politik, Genuss, Statussymbol und vieles mehr. Ist Essen zu sehr aufgeladen?

Jäger: Essen ist eine Religion geworden. Das ist schlecht. Ich wohne in Hamburg-Eppendorf, direkt am „Latte-Macchiato-Strich“. Hier wird nicht gegessen, hier wird gesmoothed. Wir haben keine Ahnung mehr von Ernährung, wir folgen Trends. Wir sind Veganer, stehen auf pürierte Lebensmittel und die auch höchstens gedünstet. Alles, was Richtung Genuss geht, ist verteufelt. Wir gehen mit dem Thema Essen faschistisch um. Essen hat zu wenig Leichtigkeit. Mindestens ein Drittel der Menschheit lebt in Hunger und Armut und wir geben Milliarden dafür aus, das auch zu dürfen. Wir fühlen uns umso überlegener, je krasser unser Essverhalten ist, statt einfach mal zu sagen: „Ein Apfel wäre jetzt lecker.“

Andererseits sind wir noch nie so informiert gewesen. Wie passt das zusammen?

Jäger: Essen ist inzwischen mit Angst verbunden. Wir haben Angst, das Falsche zu essen, politisch nicht korrekt zu sein. Wir haben Angst vor Weizen, vor Gluten, vor Laktose. Ich habe normalgewichtige Menschen in meiner Praxis sitzen, die beim Essen immer ein schlechtes Gefühl haben. Das ist tragisch. Essen ist doch elementar und stiftet auch Identität. Menschen müssen sich ernähren, sonst sterben sie.

Natürlich ist es gut, dass wir aufgeklärter sind und den Unterschied zwischen Eiern aus Freilandhaltung und Bodenhaltung kennen. Aber wir kategorisieren zu viel in Gut und Schlecht. Dann finden wir eine Überzeugung und dulden keine andere Meinung. Ich finde es grundsätzlich super, wenn Menschen sich bemühen, gesund zu sein. Aber es darf nicht stressen.

Es entsteht der Eindruck, die Forschung werfe monatlich widersprüchliche Ergebnisse auf den Markt. Mal sind Kohlehydrate Teufelszeug, dann wieder Fett, auf jeden Fall gibt es immer Dogmen, und immer klingt alles logisch. Ist Ernährungswissenschaft ein Stochern im Nebel?

Jäger: Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Die Low-Carb-Welle, die wir jetzt haben, hatten wir schon öfter. Vor drei oder vier Monaten schwappte aus den USA High-Carb zu uns rüber. Das habe ich in meinem Leben schon zweimal gemacht. Wir hatten jeden Trend schon, und sobald Ernährung einem Trend unterliegt, ist es vergänglich. Das ist wie bei Mode. Natürlich ist es gut, sich mit Ernährung zu beschäftigen. Aber man soll sich nicht jeden Schuh anziehen, sondern immer überlegen: „Was tut mir gut?“

Der Dalai Lama hat mal gesagt, es wäre klug, sich bei Religionen einfach das rauszusuchen, was einem am besten gefällt, und dann danach zu leben. Warum machen wir das beim Essen nicht auch so? Beim Essen muss man sich ganzheitlich gut fühlen. Es bringt nichts, nur Salat zu essen und dabei unglücklich zu sein – und auch nicht, nur Pizza zu essen und sich schlecht zu fühlen. Man muss einen Mittelweg finden und in der Lage sein, es auf einer Party auch mal krachen zu lassen. Es gibt keine schlechten Lebensmittel – es kommt auf die Menge an.

Sie verurteilen in ihrem Buch Diäten. Gibt es irgendeine Diät, die ihrem Urteil standhält?

Jäger: Nein. Wenn ich anfange, zu diäten oder einer Ernährungsphilosophie oder einem Trend zu folgen, höre ich auf, darüber nachzudenken, was mir guttut. Dieses selbstständige Herausfinden, was einem wirklich guttut, gibt es kaum noch. Alle Diäten, die ich gemacht habe – und das sind echt viele –, beruhen auf dem Konzept, dem Delinquenten essen wegzunehmen. Diäten haben mit dem Individuum nichts zu tun. Ernährung ist etwas völlig individuelles. Wenn man Übergewicht hat, hat man ein Problem. Und das besteht nicht darin, dass man nicht weiß, dass Kohlrabi weniger Kalorien haben als Chips oder dass man sich mehr bewegen müsste. Die Frage ist, warum man das Wissen nicht umsetzt. Das Essen ist nicht das Problem.

Nicole Jäger vor ihrem Kühlschrank
Nicole Jäger vor ihrem Kühlschrank © Ingo Blöcker

Sie sind ein Abnehm-Coach, der Diäten ablehnt, Genuss befürwortet – wie sieht ein Coaching bei Ihnen aus? Und mit welchen Vorstellungen kommen die Leute zu Ihnen? Sind die enttäuscht, wenn sie nicht sofort 20 Kilo verlieren?

Jäger: Ein klassisches Coaching ist humorvoll. Die Menschen kommen mit großen Erwartungen à la „Du bist meine letzte Hoffnung“ oder „Nach zwei Stunden Sitzung habe ich Idealgewicht“. Das kann ich natürlich nicht leisten. Zunächst müssen wir feststellen, was derjenige schon alles probiert hat, wo er herkommt und was das Ziel ist und wie der Lifestyle ist. Möchte er etwas daran ändern? Warum ist er unglücklich? Was kann man ändern? Im Idealfall haben wir danach die Lebensqualität gesteigert, wenn’s sein muss, mit der Brechstange. Und nebenbei nimmt man dabei auch noch ab. Übergewicht ist keine Krankheit, sondern ein Symptom. Man kann das Symptom behandeln, indem man sich mehr bewegt und weniger isst. Man kann aber auch die Ursache behandeln. Und das ist seltenst der Kühlschrank, der einen nachts an Bett fesselt und mit dem Trichter füttert. Wenn man an den eigentlichen Baustellen arbeitet, geht auch irgendwann der Drang verloren, Mist zu essen.

Aber natürlich hilft es auch, etwas über kurzkettige und langkettige Kohlehydrate zu lernen und wie der Körper mit Nahrung umgeht, was die Leber nachts macht und dass Sport wichtig ist. Verstehen ist wichtig, um mit einem Problem umgehen zu können. Einen Gegner, den ich nicht sehe, kann ich nicht bekämpfen. Am Ende geht es um Motivationsfindung – das ist harte Arbeit.

In Ihrem Buch geht es viel um die Kalorienbilanz, also mehr Kalorien zu verbrauchen als zu sich zu nehmen. Das klingt banal.

Jäger: Ist es auch. Und das ist ein Vorwurf, den mir viele machen. Die haben das Buch dann aber nicht weitergelesen. Es gibt allerdings keinen Zehn-Punkte-Plan und keine Diät-Tipps.

Ist es eigentlich egal, ob jemand 250 oder 25 Kilo abnehmen möchte?

Jäger: Völlig. Ich arbeite mit Leuten, die fünf Kilo verlieren wollen und welchen, die 150 Kilo verlieren müssen, bevor sie wieder auf eine normale Waage steigen können. Und ich arbeite mit Frauen, die 36 Kilo wiegen und gerade aus der Zwangsernährung kommen. In dem Moment, wo man unzufrieden ist, hat man ein Problem. Wie viel das Problem wiegt, ist egal. Am Ende geht es immer um Glücklichsein. Wichtig ist, dass man es schaffen kann.

Gibt es Fälle, denen Sie nicht helfen?

Jäger: Ja, Kinder zum Beispiel. Da schicke ich das Kind nach Hause und rede mit den Eltern. Oder wenn da ein zwölfjähriges Mädchen sitzt und abnehmen will, obwohl es schon Normalgewicht hat. Oder wenn da jemand sitzt, der mit seinem Gewicht eigentlich zufrieden ist.

Man muss niemanden zwangstherapieren, damit er glücklich ist. Sehen Sie, da war schon wieder das Wort! Es geht immer ums Glücklichsein. Manchen sage ich dann, dass ihr Problem nicht das Gewicht ist, sondern dass sie mit sich selbst nicht zufrieden sind. Die Fummelei am Gewicht kann auch ein Stellvertreter für andere Probleme sein. Mit zehn Kilo zu viel kann man gut leben und glücklich sein.

Jetzt gibt es die Fettlöserin auch als Bühnenprogramm unter dem Titel „Ich darf das, ich bin selber dick“. Was kann das Publikum da erwarten?

Jäger: Eine kabarettistische Lesung mit Teilen aus dem Buch, Kabarett und Poetry Slam. Es geht um Ehrlichkeit und es tut weh. Es ist kein Programm ausschließlich für Übergewichtige. Wenn Sie einen Körper haben, können Sie sich das ansehen. Es geht ums Scheitern und um Erfolg und darum, den Hintern hochzukriegen, und um Beleidigungen. Ich darf das, ich bin selber dick. Ich hoffe, dass viel gelacht wird und dass es den einen oder anderen Denkanstoß gibt.