Im Namen Gottes werden seit Jahrhunderten Konflikte ausgetragen. Dabei stehen Religionen auch für Gewaltunterbrechung, Besinnung und Versöhnung. Dazu: Hamburger, die sich für den Frieden auf ganz unterschiedliche Art und Weise engagieren

Anfang der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts stürmte die junge Sängerin Nicole mit ihrem Hit „Ein bisschen Frieden“ nicht nur in Deutschland die Charts sondern gewann 1982 auch den Eurovision Song Contest. Der Zeitpunkt dieses Erfolges war bestimmt kein Zufall. Das war nämlich die Zeit des sogenannten Nato-Doppelbeschlusses. Das westliche Verteidigungsbündnis wollte in Westdeutschland neue Raketen stationieren, wenn die Sowjetunion sich in Gesprächen nicht vom Aufstellen ihrer SS-20 abbringen ließe. Mit Hunderttausenden war auch ich damals auf den Straßen und vor den unzähligen Raketendepots in unserem Land. Eine sich immer schneller drehende Rüstungsspirale und ein sich potenzierender Overkill sollten mehr Sicherheit schaffen – vor den „bösen Russen“, ein Feindbild, das gepflegt und kräftig befeuert wurde. Das leuchtete uns nicht ein, ganz zu schweigen von den immensen Ausgaben, die viel besser in Bildung oder für ökologische Projekte einzusetzen waren. Und das nicht nur im Westen und im Osten. Die Länder des Südens wurden sozusagen mit in Geiselhaft genommen in unzähligen Stellvertreterkriegen, mit den „Guten“ auf unserer Seite und den „Bösen“ auf der Seite des russischen Blocks.

Ob und inwieweit diese Friedensbewegung in Westdeutschland und auch die unzähligen Friedensgruppen in Ostdeutschland die Wende vor 25 Jahren, den Fall der Mauer in Deutschland und unzähliger Zäune in Osteuropa befördert haben oder eben gerade nicht, darüber streiten sich Historiker noch immer. Um die Möglichkeiten, heute ein bisschen mehr Frieden zu erreichen, wird auch wieder gestritten. Soll das mit oder ohne deutsche Waffen geschehen? Ist die historisch bedingte deutsche Zurückhaltung, sich direkt in bewaffnete Konflikte einzubringen, ein Dreivierteljahrhundert nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges überholt oder weiter ein wichtiges Signal?

Diese Debatte wird geführt auf dem Hintergrund von Bildern aus Kriegsgebieten, die kaum auszuhalten sind. Da wird Menschen vor laufender Kamera in Syrien und im Irak die Kehle durchgeschnitten. Und die Bilder der Gewalt erreichen uns aus aller Welt. Der Nahe Osten und die Ukraine stehen im Moment im Fokus.

Aber das Internationale Institut für Strategische Studien (IISS) zählt mehr als 40 aktive Konflikte – eben auch solche in Afghanistan, im Nordkaukasus, in Mali, in Zentralafrika, in Somalia, im Südsudan, im Kongo und Nigeria, um nur einige zu nennen. Dabei taucht immer wieder die Frage auf: Sind die Religionen nicht Hauptverantwortliche in diesen Dramen oder zu mindestens (irgendwie) schuld?

Der IS-Terror – ein Religionskrieg?

Nehmen wir ein aktuelles Beispiel: Da wird der IS-Terror undifferenziert mit dem Islam gleichgesetzt. Da wird dieser Weltreligion eine immanente Gewaltgeschichte unterstellt, Mohammed gar als Ur-Faschist verunglimpft. Da wird einem christlichen Tötungsverbot eine generelle islamische Tötungslizenz gegenübergestellt – und das von einem Professor für Ethik und politische Philosophie an einer Päpstlichen Hochschule.

Da haben wir es wieder, das alte Gut-böse-Schema. Statt des „bösen Russen“ bedient es sich jetzt des „bösen Muslim“. Mich erschreckt, wie das in diesen Wochen und Monaten wieder verfängt. Und leider werden die klaren Stellungnahmen gegen den Terror von Muslimen hier in Hamburg und weltweit viel zu wenig wahrgenommen.

„Wir sind zutiefst bestürzt über die aktuellen Ereignisse im Nahen Osten und über den Terror, den der sogenannte Islamische Staat (IS) gegenüber Zivilisten und Gefangenen jeglichen Glaubens walten lässt. Die ungeheuerliche Gewalt, die von den Anhängern des IS ausgeht, negiert alle Regeln der Menschlichkeit und zivilisatorische Normen, für deren Herausbildung auch der Islam eine wichtige Rolle gespielt hat und an denen er teilhat. Solche Deutungen des Islam, die ihn zu einer archaischen Ideologie des Hasses und der Gewalt pervertieren, lehnen wir strikt ab und verurteilen diese aufs Schärfste.“ So haben etwa Vertreter der Standorte für Islamisch-Theologische Studien in Deutschland, also die, die zukünftige Religionslehrer und Imame ausbilden deutlich formuliert.

Und in einem offenen Brief haben im September 120 Islamgelehrte aus aller Welt die Ideologie und die Handlungsweisen der Terrororganisation IS theologisch-wissenschaftlich klar zurückgewiesen. Zu den Unterzeichnern zählen etwa der ägyptische Großmufti I. Allam, der Jerusalemer Mufti A. Hussein, der jordanische Prinz und Religionswissenschaftler Ghazi bin Muhammad, der frühere Großmufti von Bosnien und Herzegowina M. Celic und weitere Gelehrte aus Arabien, Asien, Europa und den USA.

Die wohlgemerkt politische Ideologie des IS allein auf den Islam, die arabische Welt und deren angebliche Rückständigkeit und Gewaltbereitschaft zu reduzieren greift viel zu kurz. Hier liegt vielmehr ein Phänomen vor, das weltweit – und auch bei uns vor der Haustür – Menschen fasziniert. Eine grenzenlose Brutalität wird hier medial wie ein Happening inszeniert, ein „Woodstock des Grauens“. Da ist die orangefarbene Kluft der Gefangenen eine bewusste Anspielung auf die Lagerkleidung der Guantánamo-Insassen, das Messer soll an Mohammeds Schwert erinnern, genauso wie die lange Mähne und der wilde Bart, und der erhobene rechte Zeigefinger steht für strengen Monotheismus.

Alles eine durchdachte Inszenierung von Leuten, die Religion instrumentalisieren und darüber hinaus gerissene Kapitalisten sind. Über Entführungen, Verkauf von Kunstschätzen, Banküberfälle, Wegzölle und den Verkauf von Zehntausenden Fass Öl pro Tag verfügen sie über Unmengen von Geld. Ja, der IS betreibt Empire-Building, eine klerikal-faschistische Ordnung, ein eigenes Machtzentrum in einer multipolaren Welt.

Und wer fällt darauf rein? Leider auch und gerade junge Leute, die sich an den Rand gedrängt fühlen, die für sich keine Perspektiven sehen und sich als Mitglieder des IS plötzlich als wichtig, bedeutend und mächtig erleben. Mich erschrecken und berühren dabei am meisten Berichte von jungen Menschen, die ihren Weg mit tief empfundenem Entsetzen über die Ungerechtigkeit der Welt rechtfertigen. Männer und Frauen, die sich in Empörung hineinsteigern über das Leid zum Beispiel in Syrien. Sie fragen – und ich denke, sie fragen zu Recht –, warum die Welt hier tatenlos einem brutalen Morden zusieht. Und sie bohren weiter, wenn sie sich darüber beklagen, dass die Welt gegen das Leid von Jesiden und Christen vorgeht, aber viel zu lange das Leid der unzähligen muslimischen Sunniten in Syrien ignoriert hat. Zählen sie denn nicht oder weniger, wird da gefragt.

Wenn ich solche Argumente nenne, dann nicht, um Gewalt zu rechtfertigen. Gewalt ist nie zu rechtfertigen! Aber ich denke, wir sind als Gesellschaften, auch hier in Deutschland, herausgefordert, uns mit dieser Ideologie – so schmerzhaft das auch ist – auseinanderzusetzen. Nur dann können wir Strategien entwickeln, wie es die Hansestadt Hamburg jetzt mit ihren Präventionsmaßnahmen gegen religiös motivierten Extremismus tun will. Beratungsangebote, verstärkte Bildungsanstrengungen und klares Vorgehen gegen Rechtsbrüche werden hier verbunden.

Was ist der richtige Weg zum Frieden?

Damit sind wir wieder beim Potenzial der Religionen. Ja, es gibt ein Gewaltpotenzial in den Religionen. Ja, es gibt Gewaltgeschichten in unseren heiligen Büchern, in der Hebräischen Bibel, im Neuen Testament, im Koran.Ja, auch durch Anhänger asiatischer Religionen kommt es zu gewalttätigen Exzessen, wenn man nur an die brutalen Übergriffe von Buddhisten auf Muslime in Myanmar/Birma denkt. Nein, hier ist keine Religion frei von Schuld. Sich mit der je eigenen Schuldgeschichte ehrlich auseinanderzusetzen macht hoffentlich demütig. Mit der Selbsterkenntnis kann dann umso selbstbewusster und fröhlicher das ungeheure Friedenspotenzial der Religionen zur Sprache gebracht werden. Der Gott, der sich in unterschiedlichen Phasen der Weltgeschichte auf je eigene Weise offenbart hat, etwa Mose im Dornbusch, als wehrloses Kind im Stall von Bethlehem oder über den Engel Gabriel dem Propheten Mohammed. Dieser eine Gott will den Frieden für alle Welt – darin bin ich mir als Christ mit vielen Juden und Muslimen einig. Für den Schalom, den Salaam, den Frieden lohnt sich engagierter Einsatz. Wenn Menschen immer wieder Gewalt anwenden, wenn unsere Gier, unser Wille zur Macht im Kleinen und im Zusammenleben der Staaten in Gewalt mündet, diskreditiert das uns Menschen, nicht aber die Religion. Religionen stehen für Gewaltunterbrechung, für Besinnung auf das eigene Versagen und für Versöhnung.

Ich erlebe es als Fortschritt, wenn in unseren christlichen Kirchen seit den vergangenen Jahrzehnten engagiert um die Wege zu einem „gerechten Frieden“ gerungen wird statt um Rechtfertigungen für einen „gerechten Krieg“. Krieg kann niemals gerecht sein. Krieg bringt immer Gewalt und Unfrieden. „Krieg darf nach Gottes Willen nicht sein“ – haben die christlichen Kirchen 1948 zu Recht festgehalten.

Kann ich trotzdem kriegerische Auseinandersetzungen als letztes Mittel befürworten? Damit befassen sich im Moment vor dem Hintergrund der Bilder aus dem Nahen Osten viele. Auch ich. Zu meiner Enttäuschung ist die Organisation, die das Konzept der R2P entwickelt hat – responsibility to protect, die polizeiliche Schutzverantwortung für bedrohte Völker –, paralysiert. Die Vereinten Nationen können nicht agieren, weil sich die Sicherheitsmitglieder blockieren. R2P kann nicht durchgesetzt werden. Das Morden innerhalb eines Staates unter den Augen der Weltöffentlichkeit, wie es in Ruanda geschah, sollte mit dem Konzept verhindert werden. Dennoch wiederholt es sich in Syrien und im Irak.

Die dramatischen Appelle von Jeziden, von Christen, von Muslimen, sie dürfen nicht ungehört bleiben. Ich bin – auch aus Hilflosigkeit – für das erfolgte militärische Eingreifen und mir gleichzeitig bewusst, dass jedes militärische Eingreifen – auch dieses – schuldig macht. Ich kann den Weg der radikalen Pazifisten, den Weg der Friedenskirchen nicht mitgehen, ihr Nein ohne jedes Ja zu einem militärischen Eingreifen nicht teilen.

Mich ärgert aber unheimlich die Verunglimpfung dieses Weges, das Lächerlich-Machen dieser Position. Wir brauchen in unseren Kirchen dieses radikale Friedenszeugnis, dieses Pochen auf engagierte Friedensarbeit und Friedenserziehung. Wir brauchen die mahnenden Worte der Umkehr, weil die „Wege des Krieges“ immer neues Leid produzieren. Und so ist es eine Schande, dass ein reiches Land wie Deutschland Geld damit verdient, Waffen zu exportieren – sogar in Spannungsgebiete. Ein Armutszeugnis ist es auch, dass wir nur lächerliche Summen für die Friedensarbeit und immense Summen in den militärischen Bereich investieren.

Was bleibt zu tun?

Das Engagement für den gerechten Frieden, konkrete Schritte für ein gerechteres Gemeinwesen vor Ort und weltweit müssen gegangen werden. Für mich gehört der Dialog der Religionen, das ehrliche gemeinsame Ringen um Wege des Friedens dazu.

Und sonst? Mich stärkt auf diesem Weg das Gebet – für mich ganz allein, mit anderen in der Gemeinde, auch in interreligiöser Gemeinschaft. Und: Singen. Nicht unbedingt Nicoles Lied „Ein bisschen Frieden“, gerne aber das christliche Segenslied: Frieden gabst du schon, Frieden muss noch werden, wie du ihn versprichst uns zum Wohl auf Erden. Hilf, dass wir ihn tun, wo wir ihn erspähen – die mit Tränen säen, werden in ihm ruhn. Gottes Friede ist ein Geschenk, für mich wird er in Jesus Christus greifbar und erfahrbar. Gottes Frieden ist aber auch Verpflichtung für jede und jeden von uns. Jeden Tag neu – ein bisschen Frieden.

Sind Religionen gefährlich? Unterbricht oder befördert Religion Gewalt? Universitätsgottesdienste in der Hauptkirche St. Katharinen, Katharinenkirchhof 1. 14. 12., 18 Uhr: „Friede ohne Ende“ (Jesaja 9, 1–6), 11. 1., 18 Uhr: „Ende des Schreckens“ (1. Mose 8, 20–22) und 25. 1., 11 Uhr: „Selig sind die Friedfertigen“ (Matthäus 5, 1–12)

Ringvorlesung im Dialog: Gewaltfreiheit und Gewalt in den Religionen. Montags, 18–20 Uhr, Hauptgebäude der Universität Hamburg, Edmund-Siemers-Allee 1, Hörsaal C