HIV-Positiv: Erfahrungsbericht einer Betroffenen. Jede Minute stirbt ein Kind an Aids. 2005 starben weltweit über drei Millionen Menschen daran. Nicole hat noch die Kraft zu leben.

Wenn sie mit ihrem Rollstuhl mit der großen Regenbogenflagge durch Hamburg saust, dann fällt sie einfach auf. Ihr Lachen ist laut und unwiderstehlich, ihre positive Energie läßt sie leuchten. Nicole\* ist 27, Lesbe und HIV-positiv. Damit hat die gay community so ihre Schwierigkeiten. "Ich habe da schon Erfahrung mit Vorurteilen machen müssen", sagt Nicole. "Besonders beliebt ist die Frage, woher ich es denn habe - mit dem Hintergrund, ich könnte doch gar keine richtige Lesbe sein oder hätte vielleicht eine Drogenvergangenheit. Dabei spielt das doch wirklich keine Rolle, denn es gibt keine Infizierten erster oder zweiter Klasse."

Nicole ist keine Frau für Kompromisse. Sie hat Power, und sie hat Mut. Auch das ist eine Folge ihres HIV-Status.

Wem klar ist, daß die Uhr tickt, der hat die Chance aufzuwachen, und Nicole nutzt diese konsequent. "Ich bin nicht religiös erzogen worden", erinnert sie sich, "aber natürlich hat sich mir die Frage gestellt: Wie kann Gott das zulassen?"

An den Sonntag nachmittag vor mehr als zehn Jahren erinnert sich Nicole noch ganz genau. Bei einer Fahrradtour fuhr sie wie immer mit vollem Tempo vorneweg, da flog sie schon über den Lenker. Nur ein paar Schürfwunden, dachte sie, doch die bluteten ganz schön und mußten in der Klinik versorgt werden. Daß man sie dort im Rahmen einer Studie fragte, ob man ihr Blut auf Infektionskrankheiten untersuchen dürfe, kriegte sie gar nicht so richtig mit. Sie hatte den Vorfall fast schon vergessen, als das Krankenhaus erneut anrief: Ob sie noch einmal vorbeikommen könne? Ohne Warnung erfuhr sie dort die schreckliche Wahrheit: Sie ist HIV-positiv.

Wie betäubt fuhr sie den ganzen Nachmittag mit dem Bus durch die Stadt. "Na ja, vielleicht lebst du noch drei Monate, hab' ich gedacht. Ich wußte eigentlich viel darüber, aber in diesem Moment war da nur noch ein Blackout."

Bis zu diesem Tag hatte Nicole verdrängen können, daß in ihrem Leben schon lange nichts mehr in Ordnung war. Nach außen hin sah alles prima aus: Vater Ingenieur, Mutter Hausfrau, zwei Schwestern, ein Häuschen im Grünen. Daß der Vater Nicole schon mißbrauchte, bevor sie zur Schule kam, konnte sie niemandem anvertrauen. "Zuerst habe ich nicht verstanden, was da passierte. Später war es wie eine Strafe - ich hatte Schuldgefühle, und damit hat mein Vater mich dazu gebracht, die Klappe zu halten."

Keiner in der Familie wußte, was vorging, denn Nicole redete nicht darüber und tat immer, was ihre ehrgeizigen Eltern von ihr verlangten. Ihr ganz allein gehörte nur die Musik, "das war mein Stück Freiheit. Wenn ich Geige gespielt habe, konnte mir keiner was." Durch ihre Geigenlehrerin, die in der Kirche aktiv war, fand sie auch einen Zugang zum Glauben: "Ich bin durch die Musik dort hineingewachsen."

Mit vierzehn erlitt sie einen lebensgefährlichen Reitunfall. Monatelang lag sie im Krankenhaus und hatte endlich Zeit zum Nachdenken. Enttäuscht stellte sie nach ihrer Entlassung fest, daß zu Hause alles weiterging wie vorher. Abfinden wollte sie sich damit nun nicht mehr. Nicole haute öfter ab, bis die Eltern genug hatten, sie wurde in die Psychiatrie eingewiesen. Hilfe bekam sie auch dort nicht, weil sie mit niemanden reden konnte. "Ich habe nur eins gewußt: So geht das nicht weiter."

Sie fand die Kraft, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie zog aus und beschloß, den Vater anzuzeigen. Als sie ihn mit ihrer Infektion konfrontierte, war sie über seine Reaktion fassungslos: Er gab zu, selbst HIV-infiziert zu sein. Doch daß er Schuld an ihrer Infektion trage, wies er weit von sich, für ihn hatte der Mißbrauch nie stattgefunden.

AIDS ist ein Teil ihres Lebens geworden, aber sie will sich nicht davon dominieren lassen: "Ich bin doch kein wandelndes Virus!" Die Auseinandersetzung hat sie stärker werden lassen.

Noch geht es ihr gut, und sie hat ihr Leben allein in den Griff gekriegt. Darauf ist sie stolz. Daß sie als Spätfolge nun im Rollstuhl sitzt, ist eben so. Mit ihrem Job bei einem Instrumentenbauer ist sie unabhängig und kann ihre eigene Wohnung finanzieren, zu ihrer Familie hat sie jeden Kontakt abgebrochen.

Ihre Zeit wird begrenzt sein, das ist ihr klar. "Ich plane nur noch meine nahe Zukunft", sagt sie ohne Sentimentalität. Und auch auf die Frage, wie Gott das zulassen konnte, hat sie für sich eine Antwort gefunden: "Mittlerweile kann ich es als die Aufgabe sehen, die ich in meinem Leben zu meistern habe."

\* Name von der Reaktion geändert