Mahlers Achte im Spiegel von Nathaniel Stookeys neuem Stück “Mahl/er/werk“

"Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und zu klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen." Als Gustav Mahler diese Sätze im August 1906 an den holländischen Dirigenten Willem Mengelberg sandte, hatte er soeben ein Werk skizziert, das er fortan unerschütterlich das "Größte" nannte, was er geschaffen habe: seine Achte Sinfonie, ohne Zweifel ein Ausnahmewerk.

Der Nimbus des Besonderen wächst der Komposition bereits während ihrer Entstehung zu. "Es war wie eine blitzartige Vision - so ist das Ganze sofort vor meinen Augen gestanden", beschreibt Mahler den Moment der Eingebung zur Achten, "und ich habe es nur aufzuschreiben gebraucht, so, als ob es mir diktiert worden wäre ..."

Wer auch immer ihm dort diktiert hat: Er hielt sich nicht allzu streng an die klassische Sinfonie-Tradition. Schon äußerlich fällt die Achte völlig aus dem Rahmen. Statt der gewohnten vier Sätze gibt es hier zwei ausgedehnte Teile, deren zweiter mit knapp einer Stunde Dauer fast dreimal so lang ist wie der erste. Noch auffälliger: Das Aufgebot von acht Gesangssolisten, zwei gemischten großen Chören und Knabenchor sowie einem Orchesterapparat von weit über einhundert Spielern - dies stellt alles in den Schatten, was auf dem Gebiet der Sinfonik bis dahin gewagt worden war. Mahlers Opus maximum sprengt folglich auch die meisten Konzerthallen. Christoph Eschenbach und das NDR Sinfonieorchester geben dem Werk deshalb im wahrsten Sinne viel Raum: den großzügigsten in Hamburg - die O2-Arena im Volkspark.

Bevor dort die Achte erklingt, präsentieren das NDR Sinfonieorchester und das The Young ClassX Projektorchester die Uraufführung des Stücks "Mahl/er/werk" , das der junge amerikanische Komponist Nathaniel Stookey im Auftrag des NDR geschrieben hat. Stookey hat dafür Hunderte von Passagen in Mahlers Partituren markiert und diese oft winzigen Fragmente neu zusammengesetzt. Jedes hat seine originale Gestalt behalten, weder die Tonhöhen noch die Orchestrierung hat Stookey verändert - und doch ist etwas unfehlbar Heutiges dabei herausgekommen. "Mein Stück soll überraschen", sagt er, "als ob man Mahler durch ein Kaleidoskop hört."

Das Pathos der Superlative, dem auch der naive Beiname "Sinfonie der Tausend" sein Leben verdankt, könnte dazu verleiten, Mahlers erklärtes Hauptwerk als Produkt spät-gründerzeitlichen Größenwahns zu missdeuten. Wer sich jedoch auf das Werk einlässt, erkennt in der ins Gigantische gewachsenen Besetzung lediglich den Widerschein eines höher reichenden Anliegens - eines schier allumfassenden geistig-programmatischen Anspruchs. Nichts Geringeres nämlich als ein klingendes Sinnbild des Universums suchte Mahler in seiner Musik zu entwerfen. "Die Sinfonie muss sein wie die Welt. Sie muss alles umfassen", sagte er im Jahr der Fertigstellung zu Jean Sibelius.

Um diesen Anspruch musikalisch einzulösen, bietet das Werk eine ungekannte Vielfalt an Formen und musikalischen Charakteren auf. Seine Sinfonie schließt barocke Fugentechniken ebenso ein wie den weihevollen Tonfall von Choral und Hymne; bedient sich einmal einer von Wagner beeinflussten Sprache und findet ein anderes Mal zum schlichten Lied-Stil zurück. Überdies greift Mahler gezielt auf die Tradition zurück: Indem er nach dem Vorbild von Beethovens Neunter die menschliche Stimme in den sinfonischen Rahmen einbezieht, schafft er den neuartigen Typus einer Sinfonie, die "von Anfang bis zu[m] Ende durchgesungen wird".

Zwei Texte dienten ihm dabei zum Ausdruck seines universalen Anliegens: Für den ersten Teil der mittelalterliche Hymnus "Veni creator spiritus", der dem späteren Mainzer Erzbischof Hrabanus Maurus zugeschrieben wird; für den zweiten hingegen die Schlussszene aus Goethes "Faust II". Diese Zusammenstellung hat viel Befremden hervorgerufen: Trennt beide Texte doch eine Zeitspanne von über tausend Jahren! Für Mahler aber war der weltanschauliche Gehalt der Dichtungen viel entscheidender. Mit sicherem Gespür erkannte er in beiden Texten Leitgedanken, die seinem Werk einen inneren Zusammenhalt geben. Es sind dies die Ideen von Liebe und Gnade, von Erleuchtung und Erlösung im Jenseits sowie die Verherrlichung Gottes als Schöpfer, in der auch die Feier des eigenen Schöpfertums mitklingt. Die Musik wird zur tönenden Verkündigung, zur Botschaft dieser Prinzipien. Und als ein Hörer der triumphalen Uraufführung (1910) schrieb, in Mahler verkörpere sich für ihn der "heiligste künstlerische Wille unserer Zeit", erhielt er die schöne Bestätigung, dass die Botschaft seines Werkes angekommen war. Der Autor dieser Zeilen war Thomas Mann.

Sonderkonzert 20.5., 20 Uhr, O2 World. Karten unter T. 0180/178 79 80