Das Jahr ist fast vorbei. Schon wieder. Wo ist nur die Zeit geblieben? Wir haben uns mit verschiedenen Autoren auf die Suche nach ihr begeben

ls Hamburgs Erster Bürgermeister am 18. Juli im Rathaus vor die Presse trat, um seinen Rücktritt anzukündigen, zitierte er einen etwa 2300 Jahre alten Bibelvers. "Die biblische Erkenntnis, alles hat seine Zeit, gilt auch für Politiker", sagte von Beust an diesem Julinachmittag, der die Innenpolitik der Hansestadt in ihren Grundfesten erschütterte. Allen, die den amtsmüden Politiker damals erlebt haben, war aufgefallen, wie gelassen er in diese Situation trat. Wie leicht es ihm offenbar fiel, Macht aus der Hand zu geben, sich zurückzuziehen.

Vielleicht war das Handeln von Beusts in vieler Augen unangemessen, aber mit dem Bibelvers hatte er zumindest ein starkes Argument in der Hand, das ungeachtet aller politischen Bewertungen viel Stoff zum Nachdenken bot.

Im dritten Kapitel des Buches Kohelet, das auch Prediger genannt und dem berühmten König Salomo zugeschrieben wird, geht es um die Begrenztheit unserer Zeit. "Geborenwerden hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit; Pflanzen hat seine Zeit, und Gepflanztes ausreißen hat seine Zeit", heißt es da. Das liest sich, als ob uns jemand über die Schulter blickt und unser Leben schon in der Gesamtschau vor sich sieht. Diese Wahrheit kann einem brutal vorkommen und leicht lassen sich die Sätze nicht hinnehmen. Exegeten haben dem Prediger Salomo Resignation unterstellt und einen tiefen Pessimismus. Welchen Wert hat das Pflanzen, wenn doch alles wieder ausgerissen wird? Warum soll man suchen, wenn doch alles wieder verloren geht?

Seit mehr als 2000 Jahren fangen Menschen an, über ihr eigenes Leben nachzudenken, wenn sie diese Verse lesen, oft in schwierigen, manchmal in scheinbar ausweglosen Situationen oder in Lebenskrisen.

So lässt der ostdeutsche Schriftsteller Ulrich Plenzdorf in dem DEFA-Kultfilm "Die Legende von Paul und Paula" die Rockband Puhdys frei nach Salomo singen:

"Jegliches hat seine Zeit Steine sammeln, Steine zerstreuen Bäume pflanzen, Bäume abhauen, leben und sterben und Streit."

Und in diesem schönen und traurigen Film, in dem sich der Untergang der DDR schon 16 Jahre vor ihrem tatsächlichen Ende ankündigt, erscheint die harte Wahrheit des Bibelverses auf einmal tröstlich und befreiend. Vielleicht liegt es auch an der poetischen Kraft der Sprachbilder, dass sich beim Lesen dieses Textes tatsächlich so etwas wie Gelassenheit einstellen kann. Dass wir bei der Lektüre Abstand gewinnen von unserem Alltag und ein Gespür dafür entwickeln, dass der Zeittakt, dem wir uns jeden Tag wieder neu unterwerfen, bei Lichte gesehen doch eine recht geringe Halbwertszeit hat.

Zeit ist eben nicht Geld. Sie lässt sich nicht vermehren, sondern vergeht unaufhaltsam. Man kann vielleicht Stunden oder Tage auf ein Arbeitszeitkonto einzahlen, aber niemand übernimmt die Garantie dafür, dass uns genügend Lebenszeit bleiben wird, diese später auch wieder abzuheben. Wir können Zeit managen, uns um Zeiteffizienz bemühen. Wir können Zeit verschwenden, sie manchmal sogar totschlagen. Wir können Zeit sparen, aber sie niemals festhalten.

Im Stress eines immer mehr verdichteten Arbeitsalltags sehnen wir uns nach Zeit, die wir selbstbestimmt verbringen können. Nach dem Feierabend, dem Wochenende, langen Urlaubstagen. Manchmal bleibt diese freie Zeit dann aber merkwürdig unausgefüllt. Es ist, als ob der Nachhall des Alltags die freie Zeit beschädigt, die wir manchmal gar nicht mehr in innerer Freiheit erleben können. Vielleicht müssen wir ja erst wieder ein Gespür für das Wesen der Zeit entwickeln. Nicht nur dafür, dass unsere Lebenszeit begrenzt ist, sondern auch für den Wandel und für die Veränderungen, denen unsere Zeit unterworfen ist. Wir sollten uns stärker bewusst werden, dass nicht wir Herr unserer Zeit sind, sondern dass sie allein in Gottes Hand liegt. Dass es zu unserem Leben gehört, dass Dinge zu Ende gehen und anderes neu beginnt.

"Weinen hat seine Zeit, und Lachen hat seine Zeit; Klagen hat seine Zeit, und Tanzen hat seine Zeit", heißt es bei Salomo. Diese Erfahrung macht jeder, und je älter wir werden, desto klarer erkennen wir, dass die Zeit unser Leben verändert, und zwar unaufhaltsam. Dass wir früher dynamischer und leistungsfähiger waren als heute. Dass womöglich Dinge, die uns vor zehn oder 20 Jahren ungeheuer wichtig waren, uns heute unwesentlich erscheinen. Vielleicht auch, dass manches, was wir mit all unserer Kraft erstrebt haben, heute nicht mehr der Mühe wert erscheint: ein bestimmter beruflicher Posten vielleicht, eine Gehaltsklasse, eine Funktion, die mit viel gesellschaftlichem Prestige verbunden ist.

Wenn dieses Jahr in wenigen Wochen zu Ende geht, wird uns wahrscheinlich wieder einige Zeit zur Verfügung stehen, die nicht schon von vornherein verplant ist. An den Feiertagen, vor allem aber in der merkwürdig stillen Phase zwischen Weihnachten und Silvester, die "zwischen den Jahren" genannt wird, haben wir wieder die Chance, uns einmal ganz zeitlos zu fühlen. Wir können Abstand vom Alltag gewinnen und vielleicht sogar von uns selbst. Wir können versuchen, uns über die Schultern zu schauen und im Rückblick auf das Jahr danach zu fragen, wie wir unsere Zeit genutzt haben, wie wir mit ihr umgegangen sind.

Im elften Vers des Prediger-Textes heißt es in der Sprache von Martin Luther: "Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende."

Die Ewigkeit zu ergründen wäre tatsächlich zu viel verlangt, daran könnte man nur scheitern. Und daher gibt der angeblich so pessimistische Verfasser einen bemerkenswert positiven Ratschlag: "Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt, als fröhlich zu sein und sich gütlich zu tun in seinem Leben."

Bei all dem Zeitdruck, dem wir im beruflichen und persönlichen Leben ausgesetzt sind, ist es am Ende doch eine befreiende Erkenntnis, wenn uns bewusst wird, dass wir nicht Herr unserer Zeit sind und es auch gar nicht sein können. Und dass es eben nicht in unserer Verantwortung steht, noch mehr aus unserer begrenzten Zeit herauszuholen.

Wenn wir zwischen den Jahren zurückblicken und uns nach dem fragen, was gelungen ist und was nicht, was wertvoll war und was uns dann doch nicht glücken konnte, wird uns die Gelassenheit, die aus dem Prediger-Text spricht, ein guter Ratgeber sein. Auch weil dieser Bibeltext ein Gefühl für die Kostbarkeit der Ressource Zeit vermittelt. Nicht nur jede Urlaubswoche ist ein Geschenk, auch jeder Arbeitstag, jede Stunde. Jedes gute Gespräch am Arbeitsplatz, jeder freundliche Blick in der U-Bahn, jedes stille Einvernehmen zwischen Partnern, jedes Lächeln eines Kindes, jedes Lachen über einen Scherz, jeder Sonnenaufgang.

Wenn wir in diesen Tagen zurückblicken, können wir dem Reichtum unseres Lebens nachspüren und Dankbarkeit dafür empfinden. Wahrscheinlich gibt uns das dann auch die Kraft und die Gelassenheit zu akzeptieren, dass nichts bleibt, wie es ist. Dass sich die Dinge ändern, dass uns die Zeit wie Sand zwischen den Fingern verrinnt. Da ist es gut zu wissen, dass Gott uns auch dann noch hält, wenn unsere Zeit einmal abgelaufen sein wird.

Aber eben auch, dass uns das Leben jeden Tag wieder aufs Neue dazu einlädt, unsere Zeit in vollen Zügen zu genießen.