Hamburg. Zwei Kilogramm. So viel wiegt die Mikrobengesellschaft im Darm. Was die Winzlinge so alles treiben, gibt Forschern viele Rätsel auf. Noch…

Wenn einer was vom Mikrobiom versteht, dann Naveen Jain. Der Inder gehört zu jenen Milliardären aus dem Silicon Valley, die den großen Datentraum träumen. 2016 rief er die Plattform Viome.com ins Leben. Mit der angeblich fortschrittlichsten Technologie der Welt entschlüsselt ein Labor, welches Mikrobenerbgut sich in den eingeschickten Stuhlproben der Kundschaft tummelt. Die Kosten für die Analyse betragen 300 Dollar. Enthalten ist ein auf die persönliche Darmflora der Kunden zugeschnittener Ernährungsplan. Ist er hilfreich? Schwer zu sagen. Auf der Viome-Website fällt das Feedback diesbezüglich spärlich aus. Eines aber ist sicher: Im Hintergrund schöpft Jain riesige Datenmengen ab. Boomt die Erforschung des Mikrobioms weiter wie bisher, werden sie schon bald ein Vermögen wert sein.

Sie sind in der Mehrheit

Kein anderes medizinisches Feld erregt die Neugier der Forscher derzeit so sehr wie das Gewimmel im menschlichen Darm, denn die Interaktion zwischen den dort lebenden Mikroorganismen und ihrem Wirt ist sehr viel komplexer als gedacht – und die Winzlinge sind in der überwältigenden Mehrheit. „Unsere DNA bestimmt unser Schicksal?“, fragt Jain. „Das ist doch Quatsch! Sie produziert gerade mal 19.000 Gene, Mikroben-DNA dagegen fünf bis zehn Millionen.“ Die Frage, die sich dem Unternehmer angesichts dieses Zahlenverhältnisses stellt, scheint berechtigt zu sein: „Wer zieht in unserem Körper eigentlich die Strippen – wir oder unser Mikrobiom?“ Tatsächlich mehren sich die Hinweise, dass zwischen dem Ökosystem im Darm und mitunter schweren Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Autismus oder Depressionen eine enge Verbindung besteht. Dass das Geflecht aus Nervenzellen in unserer Darmwand, das sogenannte enterische Nervensystem, als ein „zweites Gehirn“ gilt, ist inzwischen fest etabliertes medizinisches Wissen. Peu à peu erwirbt sich aber das Mikrobiom den Ruf eines „dritten Gehirns“. Unklar ist jedoch, ob nun das Darmmilieu Immunsystem oder Psyche steuert oder ob es umgekehrt ist. In den Pharmaunternehmen wird mit Hochdruck geforscht: Je besser die Zusammenhänge verstanden werden, desto schneller ließen sich neue, wirksamere Medikamente entwickeln.

Kennen wir uns?

Trotz allen wissenschaftlichen Eifers: Die meisten Mikrobiomforscher tappen bisher weitestgehend im Dunkeln. Bei 40 bis 70 Prozent des bekannten Mikrobenerbguts wisse niemand, wofür es genau zuständig sei, bekennt Prof. Dr. Alexander Loy. Der Mikrobiologe von der Universität Wien ist Mitbegründer der Austrian Microbiome Initiative. In dem Verbund versuchen Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen herauszufinden, wie Mikroben miteinander kommunizieren und welche Signalstoffe sie dabei mit welcher Wirkung auf den menschlichen Wirt freisetzen. Das Dumme ist allerdings: Viele der Bakterienstämme lassen sich nicht unter Laborbedingungen an freier Luft züchten, weil sie, ähnlich wie ihre anaeroben Artgenossen aus der Tiefsee, nur unter Ausschluss von Sauerstoff gedeihen können.

Wegmachen ist auch keine Lösung

Auch wenn die Forschergemeinschaft nicht weiß, warum: Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Mikrobiom und unserem Immunsystem existiert ganz sicher. Dafür liefert die Evolutionsbiologin Dr. Alanna Collen in ihrem Buch „Die stille Macht der Mikroben“ ein Beispiel. Nach längerem Forschungsaufenthalt im Urwald infizierte sie sich mit einer Tropenkrankheit, ausgelöst durch zahlreiche Zeckenbisse. Die Symptome wurden durch die lange und intensive Behandlung mit Antibiotika zurückgedrängt. Doch dabei wurde ihr Mikrobiom stark beschädigt. Collen: „Ich war keimfrei wie ein Stück Pökelfleisch.“ Wunde Haut, eine empfindliche Verdauung und ein bakterieller Infekt nach dem anderen machten ihr das Leben zur Hölle. Nichts half, bis die Wissenschaftlerin eine Stuhlprobe zur DNA-Analyse in ein Labor schickte. Dort stellte man eine relativ hohe Konzentration der Bakterienarten vom Stamm Sutterella fest. Collen fand heraus, dass diese auch bei Autisten vermehrt vorkommen. Autisten leiden häufig unter physischen „Ticks“ wie dem Zucken von Gesichts- und Nackenmuskeln. Auch bei Collen waren diese Symptome überraschend aufgetreten.

Multikulti willkommen

Lassen sich schädliche Bakterienstämme durch die Ansiedlung wohlmeinender Gegenspieler in Schach halten? Der Gedanke liegt nahe. Tatsächlich kann eine Kottransplantation manchen Menschen mit Darmbeschwerden helfen. Bei dem Verfahren werden ein paar Gramm Darminhalt eines gesunden Menschen aufbereitet und per Sonde in den Darm eines Kranken überführt. Der Erfolg schwankt von Person zu Person. Pharmakonzerne versprechen sich daher vom Design individuell maßgeschneiderter Probiotika, bei denen lebende Bakterienstämme in Kapselform verabreicht werden, bessere Ergebnisse. „Aber um so etwas überhaupt in Angriff nehmen zu können“, schränkt Alexander Loy ein, „brauchen wir erst mal eine möglichst große Palette von Bakterien mit unterschiedlichen Eigenschaften.“

Arche Noah für Bakterien

Forscher haben weltweit Mikrobenarchive angelegt. In ihnen lagern Tausende von tiefgefrorenen Stämmen. Es droht ein Wettlauf mit der Zeit: Weil es immer mehr Menschen in die Städte zieht und die Ernährung dort vergleichsweise eintönig ist, schwindet die Artenvielfalt der Mikroben. So schnell wie möglich versucht man daher, die Mikrobiota von Mitgliedern indigener Völker oder von Menschen aus Entwicklungsländern zu bewahren.

Wie können wir unserem Darm Gutes tun?

Je artenreicher das Mikrobiom, desto gesünder der Mensch – und die Ernährung hat maßgeblichen Einfluss. Einen Beweis für diese These hat Tim Spector erbracht. Der Professor für genetische Epidemiologie am King’s College in London verdonnerte seinen 23-jährigen Sohn Tom dazu, zehn Tage lang ausschließlich Hähnchennuggets und Burger zu futtern. Was keiner der beiden für möglich hielt: Beim Nachprüfen von Toms Mikrobiom waren innerhalb der kurzen Zeit 1400 Bakterienstämme verschwunden. Ein Verlust von 40 Prozent. Der Vater wiederum machte es den Franzosen nach und vertilgte pro Tag drei Portionen mikrobenreichen Rohmilchkäse. Obwohl er danach in seiner Darmflora keine nennenswerten Neuansiedlungen feststellte, hatte er trotzdem das Gefühl, seinem Mikrobiom Gutes getan zu haben. Mehr Energie, einwandfreie Verdauung – um dieses Ziel zu erreichen, empfiehlt Spector, täglich und regelmäßig eine kleine Menge fermentierter Lebensmittel zu essen. Die Regelmäßigkeit ist deshalb wichtig, weil das menschliche Mikrobiom zur Hauptsache in den ersten Lebenswochen geprägt wird. Es von Grund auf umzubauen ist zwar schwieriger als gedacht. Doch die Darmflora lässt sich hervorragend pflegen, zum Beispiel durch die Gabe von Bakterien während einer Antibiotikabehandlung, durch Fermentiertes oder durch eine ballaststoffreiche Ernährung. Mehr Informationen gewünscht? Bitte weiterlesen!

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