Berlin. Gewalt im Pflegeheim ist keine Ausnahme, zeigt eine Analyse. Wie Angehörige erkennen, ob eine Einrichtung gut mit den Bewohnern umgeht.

Wer von Gewalt im Pflegeheim hört, erinnert sich vielleicht an Fälle wie im bayerischen Schliersee, die groß durch die Presse gingen. Dort sollen Bewohner verhungert und verdurstet sein, die Einrichtung wurde 2021 geschlossen.

Das seien die seltenen Extremfälle, sagt Sascha Köpke. Der Professor leitet das Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Köln und ist selbst gelernter Krankenpfleger. Er sagt, Gewalt fange schon viel früher an und: „Sie ist in der stationären Pflege an der Tagesordnung.“

Diesen Schluss lässt auch eine aktuelle Analyse der Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) zu, die am heutigen Mittwoch veröffentlicht wird. In der Befragung von mehr als 1000 Leitungskräften von stationären Pflegeeinrichtungen gaben 69 Prozent der Befragten an, mindestens einen Vorfall von Gewalt gegen Bewohnerinnen und Bewohner im zurückliegenden Jahr im Gedächtnis behalten zu haben.

Meist ging es dabei um Vorfälle zwischen den Bewohnern, aber je 19 Prozent der Befragten berichteten auch von Gewalt von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder Angehörigen gegen die Pflegebedürftigen. Die Autoren der Studie weisen darauf hin, dass die Angaben zur Häufigkeit nichts darüber aussagten, wie viel Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner tatsächlich zu Opfern von Gewalt geworden seien – und dass die Werte „höchstens als Untergrenze“ betrachtet werden könnten.

Gewalt in der Pflege: Schon Duzen kann eine Grenzverletzung sein

Die Gewalt kann ganz unterschiedliche Formen haben: Sie kann körperlich oder psychisch sein, in Form von Grenzverletzung, Misshandlung oder Vernachlässigung auftreten. „Gewalt zu erfahren bedeutet für die oft hochaltrigen pflegebedürftigen Menschen zum Beispiel, dass sie beschimpft werden, körperliche und teilweise auch sexualisierte Übergriffe erleben“, sagt Ralf Suhr, Vorstandsvorsitzender des ZQP.

Gewalterfahrungen bedrohten ihre Lebensqualität, ihre Gesundheit und verletzten ihre Rechte. „Schon wenn die Pflegekraft einen Bewohner ohne Zustimmung duzt oder Babysprache benutzt, kann das verbale Gewalt sein“, sagt Köpke, der auch im wissenschaftlichen Beirat des ZQP sitzt. Wenn also die Ansprache unangemessen, nicht auf Augenhöhe ist und die Intimsphäre nicht respektiert wird.

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„Wird im Beisein anderer Personen zum Beispiel über das Inkontinenzverhalten einer Bewohnerin gesprochen oder fallen Sätze wie: ,Na, hast du wieder in die Hose gekackt?‘, ist das eindeutig eine Grenzüberschreitung, geprägt von fehlendem Respekt den Menschen gegenüber“, sagt auch Siegfried Huhn.

Der Pflegeberater beschäftigt sich seit 1989 mit dem Thema und wird in Einrichtungen gerufen oder geschickt, in denen es entsprechende Vorfälle gab. Er sagt: „Eine Pflegekraft muss sich jede Handlung unter rein fachlichen Aspekten ansehen und sich fragen: Ist das notwendig? Gibt es Alternativen? Stehen die Interessen der Bewohner im Vordergrund – oder die eigenen?“

Soll zum Beispiel ein Medikament einem Menschen helfen, Ruhe zu finden, oder will eine Pflegekraft nur, dass er ruhig ist, um ihrer Arbeit besser nachgehen zu können? Braucht die Bewohnerin die Windel wirklich, weil sie sonst ins Bett macht, oder verursacht es einfach zusätzlichen Stress, nachts mit ihr auf die Toilette zu gehen?

Gewalt im Pflegeheim: Gemeinsam Präventionsmaßnahmen entwickeln

Köpke und Huhn betonen, dass zwar strukturelle Probleme wie Personalmangel Gewalt begünstigen könnten, aber: „Das ist nicht der Grund für Grenzverletzungen. Es gibt Pflegende, die Gewalt anwenden, und Pflegende, die das eben nicht tun“, so Köpke. „Es geht auch um eine innere Haltung. Man wird nicht nur situativ zum Täter“, sagt auch Huhn. „Wenn ich von Leitungspersonal Sätze höre wie: ,Man muss sich seine Bewohner auch erziehen‘ oder ,Sonst bekommen Sie die nicht gebändigt‘, weiß ich: Da gibt es eine Gewaltneigung.“

Dieser kulturelle Aspekt in einer Einrichtung sei ein wichtiger Punkt, sagt Sascha Köpke. „Sobald sich Einrichtungen mit dem Thema auseinandersetzen, hinterfragen, reflektieren, ändert das schon viel“, sagt der Pflegeexperte, der seit fünf Jahren das Präventionsprojekt Peko leitet. Gemeinsam mit den Pflegeteams entwickeln die Projektmitarbeiter Maßnahmen, um Gewalt zu verhindern. „Gewalt wird kaum ganz vermeidbar sein“, so Köpke. Es gehe eher darum, Bewusstsein zu schaffen, wegzukommen von einer Kultur des Wegschauens, hin zu einer Kultur des Hinschauens.

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Besuch vor Ort: Wie Angehörige ein gutes Heim erkennen

Wollen Angehörige herausfinden, wie der Umgang mit den Bewohnerinnen und Bewohnern in einer Einrichtung ist, rät Sascha Köpke dazu, sich vor Ort umzusehen. „Man sieht, ob dort auf den Fluren Leben herrscht, und hört, wie mit den Bewohnern gesprochen wird. Gewalt wird man nicht sehen, aber spüren“, erklärt er.

Huhn rät Angehörigen, während der Essenszeiten zu kommen und zu beobachten. Etwa wie das Essen gereicht wird und ob der Mitarbeiter dabei Kopfhörer trägt – also nicht bei der Sache ist. Läuft der Fernseher, wie wird der Tisch gedeckt, tragen die Bewohner saubere Lätzchen?

„Das ästhetische Empfinden von Menschen ist unterschiedlich, aber eine ansprechende Essenssituation ist eine Frage von Respekt“, sagt Huhn. Die Haltung der Einrichtung zu den Menschen lasse sich daran erkennen. „Man muss sich immer überlegen, dass die Menschen dort wohnen, das ist ihr Alltag. Anders als in einem Krankenhaus kommen sie dort in der Regel nicht mehr raus.“

Pflege-Experte: „Das Wichtigste ist: Man muss den Menschen glauben.“

Gibt es Gewalt in diesem Alltag, ist es für die hilfsbedürftigen Menschen kaum möglich, dieser zu entkommen. Auch weil es laut der ZQP-Studie die Einrichtungen vor Probleme stellt, Mitarbeitern zu kündigen, die durch gewaltsames Verhalten aufgefallen sind – zum Beispiel aus Angst vor einer noch dünneren Personaldecke.

Die Pflegebedürftigen sind also auf die Unterstützung ihrer Angehörigen angewiesen. Das ZQP gibt dazu online unter pflege-gewalt.de Tipps. Siegfried Huhn sagt: „Das Wichtigste ist: Man muss den Menschen glauben.“ Dann sollte man zunächst das Gespräch mit der Heimleitung suchen.

Bestreitet sie, wehrt oder lenkt ab, raten die Experten dazu, sich Hilfe von außen zu holen. Zunächst bei Beratungsstellen; ändert sich nichts an der Situation, auch bei der Heimaufsicht oder der Polizei.