Berlin. Der deutsche Wald ist krank. 35 Prozent der Bäume weisen deutliche Schäden auf. Experten fordern ein Umsteuern in der Forstwirtschaft

Die Fichte: nur noch Gerippe, kein Grün, abgestorben. So steht eine neben der anderen vielerorts an den Berghängen des Harzes, wenn die Flächen nicht schon kahl sind. Die Fichte - bei der Holzwirtschaft beliebt, weil sie eigentlich schnell und gerade wächst, Bauholz liefert - leidet unter Dürre, Hitze und dem Borkenkäfer. Für ihn sind die geschwächten Bäume ein gutes Fressen. Waldbrände und Stürme erledigen ihr Übriges. Nicht nur im Harz.

„Die Fichte wird es in tieferen Lagen unterhalb von 700 Metern nicht schaffen, sie stirbt großflächig“, sagt Nicole Wellbrock, Expertin für Waldökosysteme am Thünen-Institut im Brandenburgischen Eberswalde. Sie hat die Erhebungen zum neuen Waldzustandsbericht koordiniert, den der grüne Bundesagrarminister Cem Özdemir am Dienstag vorgestellt hat. Es ist eine Art Bauminventur. „Der Wald ist ein Patient, der unsere Hilfe braucht“, resümierte Özdemir.

Der Wald ist fest eingeplant als Klimaschützer

Forstwirte muss das sorgen, alle anderen auch. Und zwar nicht nur weil den Deutschen ein romantischer Hang zum Wald nachgesagt wird. Der Wald soll Holz liefern für Möbel und anderes, Tieren und Pflanzen ein Zuhause geben, die Luft kühlen, Trinkwasser einlagern, Jagdrevier und Ort für Spaziergang und Erholung sein. Und: Er ist fest eingeplant als Klimaschützer. Holz bindet Kohlenstoff, wenn es wächst. Doch die Natur macht in einer Art schlapp, die selbst die Experten überrascht.
Interaktiv:So groß ist das Waldsterben 2.0

Die Fichte stammt ursprünglich aus kühlen Gebieten oder Höhenlagen, dass für sie der Klimawandel reiner Stress ist, verwundert Wellbrock zum Beispiel nicht mehr. Doch Picea Abies - so der lateinische Name - stirbt nicht allein. Plötzlich trifft es auch eine Baumart, von der es heißt, sie komme eigentlich mit den widrigsten Bedingungen zurecht: die Kiefer.

Sie, Pinus sylvestris, gedeiht auf trockenen Sandböden, auf Felsen, an den Rändern von Mooren, trotzte der Erderwärmung lange. Mittlerweile wird es ihr aber doch zu heiß. Sie stirbt noch nicht in dem Maße wie die Fichte, die derzeit die höchste Mortalitätsrate aufweist. Sie schwächelt auch nicht so stark wie Buche oder Eiche. „Der Kiefer geht es aber so schlecht wie nie zuvor“, sagt Wellbrock.

Wald bedeckt ein Drittel Deutschlands

Die Diagnose im einzelnen: Der Wald bedeckt ein Drittel Deutschlands, vier von fünf Bäumen, die dort wachsen, sind krank. Genauer: Nur noch 21 Prozent der Bäume haben keine Kronenverlichtung, 35 Prozent weisen hingegen deutliche Schäden auf.

Erst berichten, dann pflanzen: Cem Özdemir, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, pflanzt zusammen mit Harald Schaum (l) von der IG Bau und Stephan Alker, Schulleiter der Peter-Lenné-Schule (r.) anlässlich der Veröffentlichung des Waldzustandsberichts 2022 einen Baum.
Erst berichten, dann pflanzen: Cem Özdemir, Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, pflanzt zusammen mit Harald Schaum (l) von der IG Bau und Stephan Alker, Schulleiter der Peter-Lenné-Schule (r.) anlässlich der Veröffentlichung des Waldzustandsberichts 2022 einen Baum. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Dabei gibt es regionale Unterschiede, je nach Baumarten, Boden, Höhenlagen, Klima. In Nordrhein-Westfalen zeigen zum Beispiel bereits 38 Prozent der Bäume deutliche Schäden, in Hessen 39 Prozent, in Rheinland-Pfalz 41, in Baden-Württemberg 46, in Thüringen sogar 50. Dagegen sind es etwa in Bayern, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern jeweils 26 Prozent, in Brandenburg nur 20.

Die Kronenverlichtung gilt als Vitalitätsmaßstab: Je lichter, desto weniger Laub oder Nadeln, umso kränkelnder der Baum. Und es trifft alle vier wichtigen Baumarten in Deutschland: Deutliche Schäden haben von den Buchen 45 Prozent, von den Eichen und Fichten jeweils 40 Prozent und von den Kiefern 28 Prozent. Noch 2018 waren es bei Kiefern erst 15 Prozent.

Dürren 2018,2019, 2020 - der Wald hat sich nicht erholt

Nichts mehr ist astrein. Die Ausscheiderate, also der Anteil aller Bäume, die seit der vorangegangenen Erhebung abgestorben sind, liegt mit 6,7 Prozent nun höher als je zuvor. Es hat nicht viel geholfen, dass es im Jahr 2021 etwas mehr Regen gegeben hat. Der Wald hat sich nicht erholt nach den Dürren 2018, 2019, 2020. Und das Klima komme jetzt „einfach on top“, sagt Wellbrock – zu belasteten und geschädigten Böden hinzu. Lesen Sie auch:Darf ich Brennholz im Wald sammeln

In den 1980er Jahren sei auf die Wälder der saure Regen niedergegangen. In Fabriken wurden Filter eingebaut, der Rauch der Kraftwerke wurde gereinigt. Für Autos kam der Katalysator, zudem bleifreies Benzin. Die Belastungen der Böden insbesondere durch Schwefelemissionen gingen zurück. Nun machen Stickstoffeinträge aus der Landwirtschaft und den Abgasen aus dem Verkehr den Bäumen zu schaffen.

Aufforstung und Umbau zu klimastabilen Mischwäldern

Zunächst würden sie mehr wachsen, was sich gut anhöre, erklärt Wellbrock. Aber Buchen zum Beispiel steckten dann zu viel Energie in das Holzwachstum und die vermehrte Fruchtbildung, heißt: in Bucheckern. Das sei ein Kraftakt - und die Reserven an anderen Nährstoffen würden aufgebraucht, an Kalium etwa. So entstünde ein Ungleichgewicht, das die Buche anfälliger mache. Es ist wie bei einer zu einseitigen Ernährung des Menschen. Der Boden versauert zudem, wenn zu viel Stickstoff da ist. Auch interessant:Peter Wohlleben: Der Wald wird den Mensch überleben

Wellbrock plädiert für eine Aufforstung und den Umbau hin zu, wie sie sagt, „klimastabilen, standortangepassten“ Mischwäldern statt Monokulturen, in denen sich gefräßige Insekten schneller breit machen. Agrarminister Özdemir erklärte, seit November 2022 alle privaten und kommunalen Waldbesitzenden dabei zu unterstützen, bis 2026 stünden 900 Millionen Euro bereit. Der Wald soll wieder grüner werden.