Berlin. Laut einer Studie haben Menschen nach bestimmten Virusinfektionen ein erhöhtes Risiko, an Krankheiten wie Alzheimer zu erkranken.

Wer mit Grippe das Bett hütet, macht sich wohl selten über mehr Gedanken als Kopf- und Gliederschmerzen, Fieber und Müdigkeit. Doch die Infektion mit dem Influenzavirus oder bestimmten anderen Viren könnte das Risiko erhöhen, in Zukunft eine neurodegenerative Erkrankung wie Alzheimer, Demenz, Parkinson oder Multiple Sklerose zu entwickeln.

Diesen Zusammenhang legt eine aktuelle Studie aus den USA nahe, die jetzt im Fachjournal „Neuron“ erschienen ist. Die Forschenden des National Institutes of Health (NIH) hatten hunderttausende Daten aus zwei Biodatenbanken aus Finnland und dem Vereinigten Königreich analysiert und festgestellt: Menschen, die bestimmte Virusinfektionen durchgemacht hatten, wiesen bis zu 15 Jahre nach der Infektion ein erhöhtes Risiko für Krankheiten auf, die das Nervensystem betreffen.

Deutsche Experten, die nicht an der Studie beteiligt waren, halten die Arbeit für sehr relevant, weisen jedoch auf methodisch bedingte Einschränkungen hin.

Wissenschaftler durchsuchten 800.000 Datensätze nach Diagnosen

Das Team um Kristin S. Levine durchforstete 800.000 Datensätze von Patienten nach einer der folgenden Diagnosen: Alzheimer, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Demenz, Multiple Sklerose, Parkinson. Anschließend sahen sich die Forschenden an, ob diese Personen irgendwann in der Vergangenheit wegen einer Viruserkrankung im Krankenhaus gewesen waren.

Den stärksten Zusammenhang fand das Team zwischen einer viralen Enzephalitis, also einer Entzündung des Gehirns, und Alzheimer. Bei Menschen, die wegen einer durch Grippeviren verursachten Lungenentzündung im Krankenhaus waren, konnten die Forschenden einen Zusammenhang mit mehreren Diagnosen herstellen, darunter Demenz, Parkinson und Amyotrophe Lateralsklerose (ALS).

„Neurodegenerative Erkrankungen sind eine Sammlung von Krankheiten, für die es nur sehr wenige wirksame Behandlungen und viele Risikofaktoren gibt“, sagte Andrew B. Singleton, Direktor des NIH-Zentrums für Alzheimer-bedingte Demenzen (CARD) und einer der Studienautoren laut einer Mitteilung. „Unsere Ergebnisse unterstützen die Idee, dass Virusinfektionen und damit verbundene Entzündungen im Nervensystem häufige – und möglicherweise vermeidbare – Risikofaktoren für diese Art von Störungen sein können.“

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Zusammenhang zwischen Multipler Sklerose und Epstein-Barr-Virus

Schon lange vermuten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass bei der Entstehung von neurodegenerativen Erkrankungen bestimmte Viren eine Rolle spielen könnten. Im vergangenen Jahr konnten Forscher etwa einen Zusammenhang zwischen dem Epstein-Barr-Virus und Multipler Sklerose zeigen. „Das Thema beschäftigt die Forschung schon seit etwa 20 oder 30 Jahren und hat mit der Corona-Pandemie noch mal neuen Schwung bekommen“, sagt Professor Martin Korte vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. „Die Studie ist also sehr relevant.“

Sie werde besonders relevant, wenn man eine Idee davon habe, wie diese Zusammenhänge zustande kommen könnten, so Korte. „In Studien an Mausmodellen konnten wir bereits 2018 aufzeigen, dass insbesondere eine Grippeinfektion über eine starke Anregung des Immunsystems auch das Immunsystem im Gehirn aktiviert.“ Die sogenannten Mikrogliazellen stünden im Verdacht Nervenzellen zu schädigen, wenn sie über Wochen und Monate aktiv seien. „Unsere Hypothese ist, dass diese Neuroinflammation das Risiko für neurodegenerative Erkrankungen erhöhen kann.“

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Studie zeigt keine ursächlichen Zusammenhänge auf

Doch die Autoren betonen, dass ihre Arbeit keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Virusinfektionen und neurodegenerativen Erkrankungen zeigt. Sie zeige eine Korrelation, keine Kausalität. „Es könnte beispielsweise auch sein, dass Personen, die dazu neigen, schwere Virusinfektionen durchzumachen, auch ein erhöhtes Risiko für neurodegenerative Erkrankungen haben“, sagt Professor Klaus Überla, Direktor des Virologischen Instituts an der Uniklinik Erlangen.

Und betont: „Bevor man jetzt zum Schutz vor neurodegenerativen Erkrankungen Impfungen empfiehlt, wäre es wichtig zu zeigen, dass die Impfungen in der Tat die Häufigkeit neurodegenerativer Erkrankungen reduzieren.“

Auch wenn die Ergebnisse der Studie interessant seien, erscheine es aktuell verfrüht, weitreichende Schlüsse aus dieser Arbeit zu ziehen, sagt auch Klemens Ruprecht von der Klinik für Neurologie der Berliner Charité. Letztlich müssten die einzelnen beobachteten Assoziationen nun im Detail und in methodisch robusten Studien nachuntersucht werden. „Erst wenn sich dann für einzelne virale Erreger definitive ursächliche Zusammenhänge mit bestimmten neurodegenerativen Erkrankungen bestätigen lassen sollten, könnte man hieraus mögliche Konsequenzen, zum Beispiel in Form einer Impfung, ziehen“, sagt Ruprecht.