Berlin. Variante folgt auf Variante: Sars-CoV-2 mutiert rasend schnell. Ein Computermodell könnte helfen, neue gefährliche Sublinien zu erkennen.

Zwei neue Omikron-Subvarianten des Coronavirus heißen BQ.1 und XXB. Es gibt sie auch als BQ.1.1 und XXB.1. „Ob sich BQ.1 oder XXB durchsetzt, ist noch unklar. In den nächsten Monaten könnte es ein enges Rennen zwischen diesen Sars-CoV-2-Varianten geben“, schreibt Wissenschaftler Moritz Gerstung vom Deutschen Krebsforschungszentrum beim Kurznachrichtendienst Twitter.

Nach Alpha, Beta, Gamma, Delta oder Omikron nun also eine Vielzahl von Omikron-Sublinien: BA.1, BA.2, BA.4, BA.5, BA.2.75, BA.2.75.2, um nur die bekanntesten zu nennen. „Es gibt so viele neue Varianten, dass die Situation extrem unübersichtlich geworden ist“, sagt Ulrich Elling vom Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Coronavirus: Genetischer Code kann sich zig Milliarden Mal verändern

Der Molekularbiologe bemüht zur Erklärung das Bild eines Staffellaufs. „Die eine Variante übergibt den Stab an die neue. Das Virus entwickelt sich schneller weiter, als die einzelnen Varianten neue Wellen machen können“, sagt er. Selbst die Variantenjäger verlieren Elling zufolge langsam den Überblick und fassen deshalb bereits einzelne Varianten in Gruppen zusammen.

Die theoretischen Möglichkeiten, wie das Virus mutieren kann, sind immens. Das gilt nicht nur für jenen kleinen Teil von Sars-CoV-2, der bei der Infektion des menschlichen Körpers und bei der Immunabwehr eine zentrale Rolle spielt: das Stachelprotein, das 1273 Bausteine zählt. Allein in den für den Eintritt in die menschliche Zelle wichtigen Regionen kann sich dessen genetischer Code zig Milliarden Mal verändern.

Seit BA.2 hat sich Elling zufolge das Tempo noch einmal erhöht, mit dem sich neue Subvarianten bilden. Dass Omikron weltweit verbreitet ist und sich beständig durch die Bevölkerung bewegt, hat dazu beigetragen. Hohe Infektionszahlen bedeuten viel Veränderung. „Es gibt keinen Grund, warum das einfach aufhören sollte. Dieses Spiel wird uns noch länger beschäftigen“, sagt ­Ulrich Elling.

Sars-CoV-2: Forscher erzeugen eine Million Mutationen des Stachelproteins

Dabei weiß heute niemand, welche Varianten in Zukunft dominieren werden. Für Mensch, Gesellschaft und Gesundheitssysteme ist das eine stete Gefahr. Im Fall der Fälle müssen Politik und Behörden schnell auf die neue Situation reagieren und Grundlegendes wissen: Wie gut sind Geimpfte und Genesene gegen die neue Variante geschützt? Und sind Impfungen oder Antikörpertherapien gegen diese Variante noch wirksam?

Die neue Methode aus der Schweiz könnte auch dabei helfen, eine neuen Corona-Impfstoff zu finden, der gegen Schlüsselmutationen wirkt.
Die neue Methode aus der Schweiz könnte auch dabei helfen, eine neuen Corona-Impfstoff zu finden, der gegen Schlüsselmutationen wirkt. © dpa | Hendrik Schmidt

Forschende um Professor Sai Reddy vom Departement für Biosysteme der ETH Zürich in Basel haben jetzt mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) eine Methode entwickelt, um solche Fragen unmittelbar nach Auftauchen einer neuen Variante beantworten zu können. Als Grundlage dafür erzeugten sie im Labor eine große Sammlung mutierter Varianten des Corona-Stachelproteins, mit dem sich das Virus während einer Infektion an das ACE2-Protein auf der Oberfläche menschlicher Zellen heftet. Am Ende umfasste ihre Sammlung eine Million Varianten, die verschiedene Mutationen und deren Kombinationen in sich tragen.

Mit sogenannten Hochdurchsatzmethoden und einer Sequenzierung des Erbguts ermittelten die Forscherinnen und Forscher dann, wie diese Varianten mit dem ACE2-Protein sowie zugelassenen Antikörpermedikamenten wechselwirkten und trainierten anschließend mit ihren Daten Modelle des maschinellen Lernens. Dabei lernt ein künstliches System aus Beispielen und kann diese in Muster und Allgemeinheiten übersetzen.

Methode soll helfen, Impfstoffe und Medikamente der Zukunft zu entwickeln

Die in der Schweiz entwickelten Computermodelle können den Angaben zufolge nun vorhersagen, ob zig Milliarden theoretischer Varianten in der Lage sind, an das ACE2-Protein anzudocken und somit eine menschliche Körperzelle zu infizieren. Außerdem könnten die Algorithmen vorhersagen, ob die jeweilige Variante neutralisierenden Antikörpern ausweichen kann. „Unsere Methode ermöglicht Forschenden zu ermitteln, welche Antikörper das größte Potenzial haben, nicht nur aktuelle, sondern auch künftige Varianten wirksam zu neutralisieren“, sagt Sai Reddy.

Darüber hinaus könne die neue Methode dazu beitragen, die nächste Generation von Antikörpertherapien und Impfstoffen zu entwickeln. „Man kann Schlüsselmutationen identifizieren, die in künftigen Varianten vorkommen können“, so Reddy. Dann ließen sich Impfstoffe und Medikamente entwickeln, die gegen die potenziellen zukünftigen Varianten einen breiteren Schutz böten.

„Entscheidend für den Erfolg ist die Qualität der Daten“

„Dieses Projekt ist Teil eines Erfolg versprechenden Ansatzes. Die medizinische Informatik und ihre Vorhersagemodelle werden tatsächlich immer besser“, sagt Thomas Ramge, Technologiejournalist, KI-Experte und Autor des Buches „Sprunginnovation“. Aber: „Entscheidend für den Erfolg maschinellen Lernens ist die Qualität der Daten. Und die lässt sich von außen schlecht beurteilen.“

Ob sich mit dem Ansatz aus der Schweiz ein Durchbruch im Kampf gegen Corona erzielen ließe, bleibe abzuwarten. „Eine gewisse Grundskepsis ist meiner Erfahrung nach immer angebracht“, sagt Ramge. „KI in der Medizin war bereits zu Beginn der Pandemie ein großer Hoffnungswert. Bisher hat sich das Versprechen leider nicht erfüllt.“

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.