Berlin. Angst führt dazu, dass man Gruppen bildet und Fremdes abwertet. Das ist ein natürlicher Reflex, sagen Psychologen.

Areej Khalaf hat Soziologie studiert. Sie geht Vollzeit arbeiten und lebt mit ihrer Familie in Knauthain, einem Vorort von Leipzig. Oft habe sie das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Viele schienen sie zu kennen, ohne je mit ihr gesprochen zu haben. Areej Khalaf ist Muslimin, „ohne Kopftuch“, wie sie betont. Vor zwei Jahren sei das noch anders gewesen, die Menschen seien freundlicher und aufgeschlossener gewesen. Damals lebte sie im Leipziger Stadtteil Plagwitz.

Den Grund für den Unterschied glaubt die 36-Jährige zu kennen: „Die meisten hier hatten bisher kaum einen Ausländer als Nachbarn, geschweige denn einen Muslim.“ In ihrer Straße, beinahe im gesamten Viertel, seien sie die Einzigen, die „nicht deutsch aussehen“. In Knauthain haben 3,5 Prozent der Bewohner Migrationshintergrund, in Plagwitz sind es mehr als dreimal so viele.

Vorbehalte gegen Muslime sind dort stark, wo nur wenige Muslime leben

Was Areej Khalaf im Kleinen erlebt, spiegelt sich auch im Großen wider. Ein aktueller Bericht der Universität Leipzig zeigt: In Europa haben die Menschen besonders dort Vorbehalte gegenüber Muslimen, wo nur wenige von ihnen leben. So lehnten etwa 75 Prozent der Tschechen und 69 Prozent der Polen den Islam ab, obwohl sich weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung zu ihm bekennen.

Auch hierzulande zeigt sich ein ähnliches Bild. Stimmen im Westen 42 Prozent der Aussage zu, „Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland verboten werden“, sind es im Osten 51 Prozent – bei einer deutlich geringeren Zahl an Muslimen. Und die rechtsextreme NPD erzielte bei der Bundestagswahl 2013 dort die höchsten Zweitstimmenanteile, wo die wenigsten Ausländer lebten.

Dort, wo wenige Muslime leben, sind die Menschen am skeptischsten.
Dort, wo wenige Muslime leben, sind die Menschen am skeptischsten. © imago/Future Image | Christoph Hardt

Man glaubt, den anderen trotzdem zu kennen

„Die Menschen glauben, den anderen trotzdem zu kennen. Aus virtuellen Begegnungen, vor allem aus Fernsehen und Zeitungen oder den sozialen Medien“, sagt Alexander Yendell, einer der Autoren des Leipziger Berichts. „Dort begegnet ihnen vor allem Terrorismus und die Unterdrückung der Frau, wenn es um den Islam geht.“

Negatives verkaufe sich besser als das Alltägliche. „Fehlt dann der Ausgleich im täglichen Umgang, der das abfedert, etwa indem man in der gleichen Firma arbeitet oder im selben Fußballverein spielt, verfestigt sich das Bild.“ Angst, so Yendell, spiele dabei eine große Rolle. Weniger vor einem Terroranschlag als um die eigenen Werte oder die wirtschaftliche Existenz.

Tatsächlich haben Studien gezeigt: Menschen grenzen sich umso mehr ab und rücken als Gruppe zusammen, wenn sie zuvor an ihren eigenen Tod erinnert wurden. „Das geht so weit, dass sie sich plötzlich mit dem Christentum identifizieren, obwohl sie eigentlich konfessionslos sind“, sagt Yendell.

Dieses Schema – einer anderen Gruppe Merkmale zuzuschreiben und sie gleichzeitig abzuwerten – gilt bei jeder Art von Vorurteilen, erklärt An­dreas Beelmann, Professor für Psychologie an der Universität Jena und Direktor des Zentrums für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration. Egal ob gegenüber Frauen, Homosexuellen, Behinderten, Schwarzen, Dicken oder Alten.

Religion und Nationalität sind für Vorurteile leicht zugänglich

„Das ist zunächst ein natürlicher Reflex und hilft uns, uns im sozialen Miteinander zurechtzufinden“, so der Psychologe. Ständig prasselten Informationen auf uns ein, da müsse man vereinfachen. Menschen würden daher in Gruppen eingeordnet und mit dem Wissen verknüpft, das es vermeintlich über diese gebe: Frauen fehle der Orientierungssinn, Übergewichtige seien faul, Muslime unterdrückten ihre Frau. Entscheidend ist jedoch, so Beelmann, „wie stark die Abwertungen sind und was wir aus ihnen ableiten“. Je seltener man dem anderen begegne, je stärker man sich bedroht fühle, desto größer seien die Abwertungen.

Religion und Nationalität, sagt Beelmann, seien für Vorurteile besonders prädestiniert. „Die sind für viele identitätsstiftend, die gefühlte Bedrohung, ‚die nehmen uns alles weg, die wollen ganz andere Gesetze‘, ist also sehr stark.“ Das zeigen auch die Zahlen: Juden und Muslime sind die Gruppen in Deutschland, die mit den meisten Vorurteilen konfrontiert werden.

2018 stimmten der Aussage „Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns“ in Westdeutschland 26 Prozent zu, im Osten 39,6. Homosexualität etwa, so Beelmann, werde inzwischen weniger abgelehnt. Viele seien der Auffassung, „die können machen, was sie wollen, solange die mich in Ruhe lassen“.

Generell zeigt sich jedoch: Menschen, die starke Vorurteile gegenüber einer sozialen Gruppe haben, hegen diese auch gegenüber anderen. Wer feindlich gegenüber dem Islam eingestellt ist, ist das meist auch gegenüber Homosexualität oder dem anderen Geschlecht.

Eine Einstellung, die sich sehr früh im Leben herausbildet: Schon mit fünf Jahren fühlen sich Kinder einer ethnischen Gruppe zugehörig und übernehmen die Wertungen ihrer Bezugspersonen. Außerdem bildet sich heraus, ob sie Neues eher als Bereicherung empfinden oder als Bedrohung.

Ein Fußballspiel eignet sich nicht, ein Stadtfest schon

Haben sich Vorurteile verfestigt, so der Jenaer Psychologe, dauert es lange, sie wieder abzubauen. Ein Flugblatt „Bitte keine Vorurteile“ helfe nicht. „Toleranz ist nicht einfach da. Die muss man sich erarbeiten.“

Zahlreiche Studien zeigen, dass auch positive Erlebnisse und Erzählungen aus dem Freundes- und Familienkreis oder dem Urlaub viel bewirken können, so Beel­mann. Das effektivste Gegenmittel aber ist Kontakt. Dieser müsste auf Augenhöhe und ohne Wettbewerb stattfinden. Ein Fußballspiel gegeneinander oder eine Wohltätigkeitsveranstaltung eigneten sich daher nicht unbedingt, ein Kulturabend oder ein Stadtfest hingegen schon. Die Empathie füreinander steigt, die Angst voreinander sinkt.

Und was ist in Regionen, in denen aus Mangel an Gelegenheiten Begegnungen kaum möglich sind? „Natürlich kann man die Leute nicht gegen ihren Willen irgendwo hinkarren“, sagt Beelmann. Die Menschen müssten aufgeschlossen sein für hilfreiche Begegnungen, etwa bei einem gemeinsamen Besuch einer Flüchtlingsunterkunft. Und sie müssten von „positiven Autoritäten wie dem Lehrer oder Pfarrer“ begleitet werden. Ansonsten, so Beelmann, wäre es „wie im Zoo“.