Berlin. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen wird in diesem Jahr gewählt. Die Ergebnisse werden sich von denen im Westen stark unterscheiden.

Auf ihn wird es in diesem Jahr ankommen. So sehr, dass viele Politiker versuchen werden, ihn gezielt anzusprechen und abzuholen. Im September und Oktober 2019 werden die Bürger in Sachsen, Thüringen und Brandenburg neue Landtage wählen. Der ostdeutsche Mann fiel bereits bei der Bundestagswahl 2017 auf.

Denn jeder vierte (26 Prozent) stimmte für die AfD. Die ostdeutsche Frau wählte sie nur zu 17 Prozent, der westdeutsche Mann zu 13 Prozent und die Frauen im Westen nur zu 8 Prozent. Dieses Land wäre ein anderes, wenn es nach dem Kopf der Männer aus den östlichen Bundesländern ginge.

Wie tickt der ostdeutsche Mann?

In den vergangenen Monaten haben verschiedene Politiker und Wissenschaftler versucht, herauszufinden, wie der Ostdeutsche tickt. Ein Bild, das vielen beim ostdeutschen Mann zuerst einfällt, ist der „Hutbürger“. Jener Mann mit Deutschlandhut, der 2018 auf dem Weg zu einer Pegida-Demonstration in Dresden war.

Die Polizei hielt seinetwegen ein Kamera-Team des ZDF von der Arbeit ab, und der Hutträger stellte sich später als LKA-Mitarbeiter heraus. Da war er wieder: Der typische breite sächsische Dialekt, der etwas Wütendes in die Kamera ruft. So trat der ostdeutsche Mann pauschal gesehen im Laufe des Jahres immer wieder auf: in Köthen, in Freital, in Chemnitz.

Chemnitz: Chronik eines Ausnahmezustands

In der Nacht vom 25. auf den 26. August wird in Chemnitz am Rande eines Stadtfestes ein 35-jähriger Mann niedergestochen. Am 27. August ziehen bereits tausende rechtsgerichtete Gruppen durch Chemnitz’ Straßen. Die Polizei hat Mühe, die Gruppe vom Gegenprotest fernzuhalten. Immer wieder versuchten sie Polizeiketten zu durchbrechen, werfen Flaschen und Böller. Die Polizei ermittelt gegen zehn Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben.
In der Nacht vom 25. auf den 26. August wird in Chemnitz am Rande eines Stadtfestes ein 35-jähriger Mann niedergestochen. Am 27. August ziehen bereits tausende rechtsgerichtete Gruppen durch Chemnitz’ Straßen. Die Polizei hat Mühe, die Gruppe vom Gegenprotest fernzuhalten. Immer wieder versuchten sie Polizeiketten zu durchbrechen, werfen Flaschen und Böller. Die Polizei ermittelt gegen zehn Personen, die den Hitlergruß gezeigt haben. © dpa | Jan Woitas
Journalisten werden attackiert.
Journalisten werden attackiert. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Nach den Ausschreitungen liegen 37 Strafanzeigen vor, mehrheitlich zu Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigungen und Straftaten nach dem Versammlungsgesetz.
Nach den Ausschreitungen liegen 37 Strafanzeigen vor, mehrheitlich zu Körperverletzungsdelikten, Sachbeschädigungen und Straftaten nach dem Versammlungsgesetz. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Laut Polizei werden 18 Menschen verletzt, darunter drei Beamte.
Laut Polizei werden 18 Menschen verletzt, darunter drei Beamte. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Der 35 Jahre alte Daniel H. hatte deutsche und kubanische Wurzeln. Am Tatort werden zahlreiche Blumen und Kerzen niedergelegt.
Der 35 Jahre alte Daniel H. hatte deutsche und kubanische Wurzeln. Am Tatort werden zahlreiche Blumen und Kerzen niedergelegt. © dpa | Jan Woitas
Ein 23 Jahre alter Syrer und ein 22 Jahre alter Iraker werden verdächtigt, Daniel H. getötet und zwei weitere Männer durch Messerstiche zum Teil schwer verletzt zu haben. Als dringend tatverdächtig wird zudem ein 22-jähriger Iraker mit Haftbefehl gesucht.
Ein 23 Jahre alter Syrer und ein 22 Jahre alter Iraker werden verdächtigt, Daniel H. getötet und zwei weitere Männer durch Messerstiche zum Teil schwer verletzt zu haben. Als dringend tatverdächtig wird zudem ein 22-jähriger Iraker mit Haftbefehl gesucht. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) reist als erstes Mitglied der Bundesregierung nach Chemnitz und besucht den Tatort.
Familienministerin Franziska Giffey (SPD) reist als erstes Mitglied der Bundesregierung nach Chemnitz und besucht den Tatort. © dpa | Sebastian Kahnert
Am 1. September kommt es in Chemnitz erneut zu mehreren Demonstrationen.
Am 1. September kommt es in Chemnitz erneut zu mehreren Demonstrationen. © dpa | ---
Der Polizei zufolge stehen 8000 Teilnehmern rechtsgerichteter Proteste 3000 Gegendemonstranten gegenüber.
Der Polizei zufolge stehen 8000 Teilnehmern rechtsgerichteter Proteste 3000 Gegendemonstranten gegenüber. © dpa | Ralf Hirschberger
Auch Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, nimmt an der Demonstration teil.
Auch Björn Höcke, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag, nimmt an der Demonstration teil. © dpa | Ralf Hirschberger
Die Gegenseite will Gesicht zeigen: Am 3. September kommen rund 65.000 Zuschauer und Demonstranten in die sächsische Stadt, um unter dem Motto „#wirsindmehr“ gegen Rechts zu demonstrieren.
Die Gegenseite will Gesicht zeigen: Am 3. September kommen rund 65.000 Zuschauer und Demonstranten in die sächsische Stadt, um unter dem Motto „#wirsindmehr“ gegen Rechts zu demonstrieren. © dpa | Sebastian Kahnert
Bei dem Konzert treten unter anderem Marteria und Casper, Feine Sahne Fischfilet, Kraftklub und Die Toten Hosen auf.
Bei dem Konzert treten unter anderem Marteria und Casper, Feine Sahne Fischfilet, Kraftklub und Die Toten Hosen auf. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Campino, Sänger von Die Toten Hosen, setzt ein Zeichen gegen Rassismus.
Campino, Sänger von Die Toten Hosen, setzt ein Zeichen gegen Rassismus. © dpa | Sebastian Kahnert
„Die Würde des Menschen ist antastbar“ steht auf einem Banner in Anspielung auf Artikel 1 des Grundgesetzes. Darin heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
„Die Würde des Menschen ist antastbar“ steht auf einem Banner in Anspielung auf Artikel 1 des Grundgesetzes. Darin heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ © dpa | Sebastian Kahnert
Der deutsche Rapper Marteria sagte, er fühle sich durch die Vorkommnisse in Chemnitz an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen erinnert.
Der deutsche Rapper Marteria sagte, er fühle sich durch die Vorkommnisse in Chemnitz an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen erinnert. © dpa | Sebastian Kahnert
Das Motto des Konzerts: Wir sind mehr – mehr als die rechtsgerichteten Teilnehmer, die in Chemnitz nach dem Tod des jungen Mannes auflaufen. Dieses Foto vom 1. September zeigt noch die Teilnehmer der Kundgebung der rechtspopulistischen Bürgerbewegung Pro Chemnitz, die sich vor dem Karl-Marx-Denkmal versammeln.
Das Motto des Konzerts: Wir sind mehr – mehr als die rechtsgerichteten Teilnehmer, die in Chemnitz nach dem Tod des jungen Mannes auflaufen. Dieses Foto vom 1. September zeigt noch die Teilnehmer der Kundgebung der rechtspopulistischen Bürgerbewegung Pro Chemnitz, die sich vor dem Karl-Marx-Denkmal versammeln. © dpa | Boris Roessler
„Weder grau noch braun“: Die Vorfälle in Chemnitz befeuern in Politik und Gesellschaft die Debatte über Ausländerfeindlichkeit und Integration. Auch über die Vorfälle wird scharf diskutiert.
„Weder grau noch braun“: Die Vorfälle in Chemnitz befeuern in Politik und Gesellschaft die Debatte über Ausländerfeindlichkeit und Integration. Auch über die Vorfälle wird scharf diskutiert. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Gab es Hetzjagden – ja oder nein? Die Debatte dazu nimmt schnell Fahrt auf.
Gab es Hetzjagden – ja oder nein? Die Debatte dazu nimmt schnell Fahrt auf. © REUTERS | Matthias Rietschel
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärt, es habe keinen Mob, keine Pogrome oder Hetzjagden in Chemnitz gegeben. Davon hatte zuvor die Bundesregierung gesprochen.
Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärt, es habe keinen Mob, keine Pogrome oder Hetzjagden in Chemnitz gegeben. Davon hatte zuvor die Bundesregierung gesprochen. © REUTERS | HANNIBAL HANSCHKE
Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen problematisiert den Begriff „Hetzjagden“ in einem Zeitungsinterview. Ein Video, dass eben jene Jagden auf Ausländer zeige, stellt er in Frage.
Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen problematisiert den Begriff „Hetzjagden“ in einem Zeitungsinterview. Ein Video, dass eben jene Jagden auf Ausländer zeige, stellt er in Frage. © dpa | Kay Nietfeld
Anfang September wird bekannt, dass am 27. August das jüdische Restaurant „Shalom“ in Chemnitz angegriffen wurde.
Anfang September wird bekannt, dass am 27. August das jüdische Restaurant „Shalom“ in Chemnitz angegriffen wurde. © dpa | Hendrik Schmidt
Gut drei Wochen nach der tödlichen Messerattacke kommt einer der beiden inhaftierten Tatverdächtigen auf freien Fuß. Das verkündet sein Anwalt Ulrich Dost-Roxin.
Gut drei Wochen nach der tödlichen Messerattacke kommt einer der beiden inhaftierten Tatverdächtigen auf freien Fuß. Das verkündet sein Anwalt Ulrich Dost-Roxin. © dpa | Hendrik Schmidt
Die SPD fordert nach den Äußerungen Maaßens personelle Konsequenzen. Der Verfassungsschutzchef müsse seinen Posten räumen.
Die SPD fordert nach den Äußerungen Maaßens personelle Konsequenzen. Der Verfassungsschutzchef müsse seinen Posten räumen. © Getty Images | Michele Tantussi
Krisentreffen im Kanzleramt: Am 18. September entscheidet die Koalitionsspitze über die Zukunft von Hans-Georg Maaßen.
Krisentreffen im Kanzleramt: Am 18. September entscheidet die Koalitionsspitze über die Zukunft von Hans-Georg Maaßen. © dpa | Kay Nietfeld
Maaßen muss seine Sachen packen. Der Verfassungsschutzpräsident wird nach seinen umstrittenen Äußerungen zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz abgelöst. Doch statt Kündigung erwartet Maaßen der Wechsel ins Bundesinnenministerium als Staatssekretär. Eine Lösung, die bei der Opposition, aber auch in Teilen der SPD scharfe Kritik auslöst.
Maaßen muss seine Sachen packen. Der Verfassungsschutzpräsident wird nach seinen umstrittenen Äußerungen zu den fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz abgelöst. Doch statt Kündigung erwartet Maaßen der Wechsel ins Bundesinnenministerium als Staatssekretär. Eine Lösung, die bei der Opposition, aber auch in Teilen der SPD scharfe Kritik auslöst. © picture alliance/dpa | dpa Picture-Alliance / Bernd von Jutrczenka
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SPD-Politikerin wirbt um Verständnis

Petra Köpping ist in den vergangenen Jahren durch all diese Orte in Sachsen gereist und hat mit Ost-Männern gesprochen. Die SPD-Politikerin ist sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration und hat gerade ein Buch veröffentlicht: „Integriert doch erst mal uns!“

Petra Köpping (SPD) im Landtag in Dresden.
Petra Köpping (SPD) im Landtag in Dresden. © dpa | Monika Skolimowska

Diesen Satz hat sie immer wieder von Menschen, die sich abgehängt fühlen, gehört. Im Buch und in Vorträgen versucht sie seitdem, um Verständnis für die Ostdeutschen und insbesondere die Männer zu werben.

Schließlich gelten die neuen Bundesländer nach wie vor als eine eher strukturschwache Region. Es gibt keine Dax-Unternehmen im Osten, kein einziger Direktor einer staatlichen Universität im Osten stammt selbst von dort und die Zahl der Mindestlohn-Empfänger liegt bei sechs Prozent, im Westen ist es die Hälfte. Mindestlohn – auch dieses Schicksal betrifft vorwiegend Männer, weil er in Berufen gezahlt wird, in denen häufig Männer eingesetzt werden.

Aufarbeitung der Treuhandjahre

„Der Osten ist nach wie vor sozusagen die verlängerte Werkbank Deutschlands“, sagt Petra Köpping. „Hinzu kommt, dass viele durch die Wiedervereinigung eine komplette Entwertung der Lebensleistung erlebt haben.“ Sie hat immer wieder Geschichten von ausgebildeten Ingenieuren gehört, die über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Straßenbaujobs arbeiten mussten. Bei ihren Vorträgen achtet sie deshalb darauf, den Menschen auch Mut zu machen.

„Ihr habt Tolles geleistet“, sage Köpping zu Ostdeutschen häufig. „Sie mussten in der Tat unter sehr widrigen Bedingungen ein Land aufbauen.“ Die Aufarbeitung der Treuhand-Jahre ist ihr deshalb auch wichtig.

„Wie muss sich das anfühlen für Menschen in der Lausitz, die Wertschätzung mitzubekommen, mit der die letzte Grube in Gelsenkirchen geschlossen wird?“, fragt sie. Im Osten seien die Gruben einfach dichtgemacht worden und niemand fragte, wie viele Schicksale daran zerbrachen. „Das wollte man vom Osten nicht hören.“

Frauen gehen eher in den Westen

Doch nicht alle sind in Ostdeutschland geblieben. Dass der Freistaat Sachsen eine der renommiertesten Abitur-Prüfungen im Land hatte, kam vielen Einheimischen auch auf dem Land zugute – dort aber vor allem den Mädchen.

Der Bevölkerungswissenschaftler Reiner Klingholz hat die Startbedingungen von jungen Menschen im Osten nach Geschlechtern untersucht und herausgefunden, dass Anfang der 2000er-Jahre Mädchen eines Jahrgangs zu 50 Prozent häufiger die Schule mit Abitur abschlossen als Jungen. Erstere gingen wegen des Strukturwandels hin zum eher frauenfreundlichen Dienstleistungssektor in den Westen, weil sie dort bessere Jobchancen sahen – und sind in großer Zahl auch dort geblieben.

Männer fühlen sich häufig nicht angenommen

„Junge Männer sind zwar etwa im gleichen Ausmaß abgewandert wie Frauen“, so Klingholz, „aber sie sind häufig nach wenigen Monaten zurückgekehrt, weil sie dort schlechter Fuß gefasst haben. Das wiederum haben sie oft mit Diskriminierungserfahrungen begründet.“

Bevölkerungswissenschaftler Reiner Klingholz.
Bevölkerungswissenschaftler Reiner Klingholz. © Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Während Ostfrauen meist berichteten, sie seien in ihrem neuen Arbeitsumfeld willkommen und ernst genommen, gaben die männlichen Rückkehrer oft genau das Gegenteil zu Protokoll.

Mittlerweile gibt es Besserungen in diesem Bereich: „Man hat erkannt, dass demografisches Potenzial verloren geht, wenn die Bildungsunterschiede zwischen den Geschlechtern weiter so groß bleiben und sich mehr um die Schulerfolge von jungen Männern gekümmert.“

Auch in Heilbronn wählen viele AfD

Aber es ist sicher kein Zufall, dass gerade diese Generation der in den 2000er-Jahren Herangewachsenen jetzt häufig AfD gewählt hat. „Bei den 30- bis 40-Jährigen ostdeutschen Männern war der Anteil an größten.“ Das ist genau die Altersgruppe, die von der Frauenabwanderung am meisten betroffen ist.

Das sind natürlich Verallgemeinerungen, die nicht auf alle Regionen zutreffen. Und so gibt es auch in Heilbronn, wo nahezu Vollbeschäftigung herrscht, eine hohe Anzahl AfD-Wähler. Aber es kann zumindest den Frust erklären, der sich durch die Flüchtlingskrise noch verschärfte. Petra Köpping kann sich an fast schon komische E-Mails erinnern.

„Einer schrieb mir“, sagt sie, „besorgen Sie mir eine Flüchtlingsfrau, dann brauch ich nicht zu Pegida gehen.“ Das klinge im ersten Augenblick lustig, aber es gab Männer, die bei Flüchtlingsinitiativen angefragt haben, ob sie Frauen kennenlernen können.

Frauen am Arbeitsmarkt flexibler

Einer, der diese Fokussierung auf den ostdeutschen Mann als Wählergruppe durchaus kritisch sieht, ist der Görlitzer Sozialforscher Raj Kollmorgen. Er ist Professor für sozialen Wandel und seine Stadt liegt am polnisch-tschechischen Dreiländereck. Sie ist nur mit einem Dieselzug zu erreichen, dessen Fahrpläne variieren.

Nach dem Krieg wurde Görlitz nicht wieder an das elektrische Bahnnetz angeschlossen. „Aber es gibt Regionen in Oberfranken, denen geht es ähnlich“, sagt Kollmorgen. „Im Landkreis Görlitz gibt es in nicht wenigen kleineren Gemeinden einen Überschuss an männlichen Bewohnern, der durchaus besorgniserregend ist.“ Frauen hätten sich vielfach am Arbeitsmarkt als mobiler und flexibler erwiesen.

Forscher sieht auch Hoffnung

Hinzu komme gerade bei Männern der Frust, die Kontrolle noch einmal zu verlieren. „Die Männer sehen Treuhand-Katastrophe, Hartz IV, Griechenland-Krise und die große Menge an Flüchtlingen im Jahr 2015 in einer Reihe“, sagt er. „Für entlegene Regionen Europas oder für Zugezogene von noch weiter her ist Geld da, aber für uns nicht — so denken hier viele.“

Kollmorgen setzt dem in Gesprächen oft entgegen, dass es Näherinnen in Lodz oder Bergarbeitern in Katowice noch schlechter ergangen sei. „Da gab es in den Umbrüchen nach 1990 kaum sozialpolitische Abfederungen.“

Sein Ausblick allerdings fällt nicht nur negativ aus. Für Raj Kollmorgen haben die industriellen Restrukturierungen und demografischen Umbrüche die wirtschaftliche Lage für qualifizierte Arbeitskräfte nachhaltig verbessert. Damit einher gehe auch ein gestiegenes Selbstbewusstsein der Arbeiter.

Neue Konzepte für ländliche Regionen

Ob bei Jenoptik in Jena, Nomos in Glashütte, Siemens in Görlitz oder bei Porsche in Leipzig: Die Männer wüssten um den Fachkräftemangel und ihre Qualifikationen, die sie deutschlandweit einsetzen könnten. „Aber wenn jetzt einige sagen, die Abwanderung sei endlich zurückgegangen“, entgegnet er häufig, dass „das nicht zuletzt daran liege, dass fast alle, die gehen konnten, bereits gegangen sind.“ Er warnt, dass nicht mehr viel Zeit bliebe.

„Wenn wir es in den nächsten Jahren nicht schaffen, für die peripheren ländlichen Regionen neue, nachhaltige Entwicklungskonzepte zu entwickeln und umzusetzen, bleiben sie wohl dauerhaft abgehängt.“ Dem muss die Politik entgegenwirken. Petra Köpping ist sich dessen bewusst.

Politiker sollen mehr Präsenz zeigen

Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen.
Michael Kretschmer (CDU), Ministerpräsident von Sachsen. © dpa | Jan Woitas

„Meine Arbeit wird ja gern als Vergangenheitsbewältigung abgetan“, sagt sie und meint damit auch ihren sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU). „Aber es geht vielmehr darum, zu verstehen, warum die Menschen im Osten anders ticken, und sie dort abzuholen.“

Beim Sachsenmonitor vom November 2018 kam heraus, dass mindestens 85 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie an sich unterstützen, aber sich selbst dafür einsetzen, das wollen nur 50 Prozent. „Aber wir machen das, was wir können, weiter“, sagt sie. Sie meint das Rausgehen und Mit-den-Bürgern-Reden.

In der Tat wurde das wohl vernachlässigt. In der Kleinstadt Dorfchemnitz im Erzgebirge, wo fast die Hälfte der Einwohner AfD gewählt hat, gab es vor der Wahl 2017 nur ein Politiker-Gespräch im Landgasthaus, das sehr gut besucht war: mit Frauke Petry, damals AfD-Spitzenkandidatin.