Stuttgart. Die Grünen fahren in Baden-Württemberg einen historischen Erfolg ein, doch für Grün-Rot reicht es nicht. Das große Taktieren beginnt.

Der Jubel will gar nicht mehr aufhören. Bis Winfried Kretschmann, 67 Jahre alt, endlich auf der Grünen-Wahlparty in der Stuttgarter Staatsgalerie sprechen kann, vergehen Minuten. Kretschmann ist für seine Verhältnisse ausgelassen, er begrüßt die Grünen mit den Worten: „Liebe Freundinnen und Freunde.“ Er lächelt, ist zufrieden und sagt: „Die Baden-Württemberger haben Geschichte geschrieben.“ Er spricht von einem furiosen Ergebnis. Denn für die Grünen ist es ein historischer Sieg. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte ist sie stärkste Partei bei einer Landtagswahl. Und zwar nicht in einem Stadtstaat. Sondern in einem großen Flächenland, das Jahrzehnte von der CDU dominiert wurde. Später sagt Kretschmann: „Wir haben gezeigt, wir können auch ein Industrieland führen, auch in Zeiten wie der Flüchtlingskrise. Wir nehmen das Ergebnis in Demut an.“

Kretschmann hat das bisher Unmögliche möglich gemacht. Bürstenhaarschnitt, schwäbischer Dialekt, betuliches, hausbackenes, seriöses Auftreten. Nah bei den Leuten. Und doch präsidial, ein Anti-Populist. Er erklärt lieber, als auf die Pauke zu hauen. Auf die Frage, ob ihm sein Job Spaß macht, sagte er im Wahlkampf: „Politik macht keinen Spaß, Politik macht Sinn.“

In der Flüchtlingspolitik steht der seit 2011 regierende Ministerpräsident strammer an der Seite von Bundeskanzlerin Angela Merkel als die meisten CDU-Spitzenpolitiker. Er bete sogar für Merkel, hat er vor Kurzem erzählt. „Kanzlerinnenversteher“ hat ihn deshalb CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf genannt. Das war höhnisch gemeint. Doch das Wort entwickelte sich schnell zum Lob.

Kretschmann ist der Ober-Realo seiner Partei

Geschafft hat der ehemalige Biologielehrer diesen historischen Erfolg jedoch auch, weil er so anders ist als der Rest seiner Partei. Unideologisch, pragmatisch, wirtschaftsnah. Der „Kretsch“, wie er im Grünen-Jargon heißt, ist der Ober-Realo seiner Partei. Nur weil er in Baden-Württemberg ein starkes Ergebnis einfährt und gezeigt hat, dass der knappe Sieg von 2011 nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima keine Eintagsfliege war, heißt das nicht, dass die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei sind. Bundesweit liegt die Partei bei um die zehn Prozent.

Doch sein Sieg hat einen deutlichen Makel: Es wird nicht reichen für die Fortsetzung von Grün-Rot. Das liegt am schwachen Abschneiden des Koalitionspartners SPD. Und an der AfD, die aus dem Stand ein zweistelliges Ergebnis eingefahren hat – was viele natürliche Regierungsbündnisse unmöglich macht. Auf Baden-Württemberg kommen Wochen mit komplizierten Verhandlungen zu.

Die wichtigsten Fragen lauten jetzt: Geht die CDU doch ein grün-schwarzes Bündnis ein? Tendiert die FDP eher zur Deutschland-Koalition mit CDU und SPD? Am Ende könnte so der strahlende Wahlsieger Kretschmann sogar sein Amt als Ministerpräsident verlieren. Oder bewegen sich die Liberalen doch – und schmieden eine grün-rot-gelbe Ampel? FDP-Spitzenkandidat Hans-Ulrich Rülke gibt sich wortkarg: „Wir müssen jetzt sehen, was wir mit dem Wahlergebnis anfangen.“ Er will erstmal abwarten. Das große Taktieren hat begonnen.

Die CDU ist zum ersten Mal nur zweitstärkste Partei im Ländle

Noch ist ohnehin fraglich, wer überhaupt der richtige Ansprechpartner bei den Parteien ist. Vize-Ministerpräsident Nils Schmid hat ein so schwaches Ergebnis eingefahren. Er wird womöglich zum Rücktritt gedrängt. Am Sonntagabend spricht er von einem „schmerzlichen Ergebnis“.

Bei der CDU ist völlig unklar, wer Koalitionsgespräche führen könnte – also ob Spitzenkandidat Guido Wolf die Wahlschlappe politisch überlebt. Kretschmanns Herausforderer hat einen farblosen Wahlkampf geführt. Am Abend gab er sich kämpferisch: „Die CDU hat die Absicht, in Baden-Württemberg Wahlverantwortung zu übernehmen – das Wahlergebnis bietet die Möglichkeit dazu.“ Man wolle mit SPD und FDP, aber auch mit den Grünen sprechen. Das klingt so, als sei eine grün-schwarze Koalition möglich. Eine solche hatte Wolf im Wahlkampf noch ausgeschlossen, was von CDU-Landeschef Thomas Strobl deutlich relativiert wurde. So etwas irritiert die Wähler.

Wolf vernichtete Vorspruch der CDU vor den Grünen

Wolf war so unbekannt, dass er Ende 2015 Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag einen Plüschwolf schenkte – was zwar nette Fotos gab, aber nicht mehr Popularität. Dann vernichtete Wolf durch unglückliche Aussagen auch noch den deutlichen Vorsprung der CDU vor den Grünen. Kurz vor dem Wahltag gab es noch einen Machtkampf zwischen Wolf und Strobl, der sich unklar dazu äußerte, wer nach der Wahl Koalitionsverhandlungen führen würde. Später hieß es kleinlaut: Natürlich wird Wolf mit dabei sein.

Die Südwest-CDU war mal eine stolze Partei, brachten Erwin Teufel und Lothar Späth hervor, regierte lange mit absoluter Mehrheit. Jetzt ist die CDU im Ländle nur noch eine zerstrittene Gruppe – und zum ersten Mal bei einer Landtagswahl im Ländle nur Zweiter.