Berlin. Der IS führt eine Kartei mit Kämpfern – als Teil einer großen Verwaltung. Doch nun könnten ihm die Dokumente zum Verhängnis werden.

Bei Frage 16 gibt es drei Antwortmöglichkeiten: Kämpfer, Selbstmordattentäter oder „Ingimasi“, ein Attentat, bei dem der Dschihadist bis zur letzten Patrone kämpft und sich erst dann in die Luft sprengt. So, wie manche der Paris-Angreifer im November den Märtyrertod wählten. Im Kampf. Die Frage 16 ist eine von 23 auf dem Personalbogen von Abdelkarim B., ein deutscher Dschihadist in den Reihen der Terrororganisation „Islamischer Staat“. Sein Kampfname ist Abu Umayma-al Almani, am 17.9.2013 reiste er nach Syrien ein. Er machte bei Frage 16 sein Kreuz bei: Kämpfer.

IS-Armee zählt bis zu 25.000 Kämpfer

800 Islamisten wie B. haben die deutschen Sicherheitsbehörden im Visier, bekannte Salafisten, die nach Syrien und Irak gezogen sind. Gut möglich, dass die Liste des Bundesamts für Verfassungsschutz bald länger wird. Die „Süddeutsche Zeitung“, NDR und WDR legen nun Recherchen offen, in denen sie nach eigenen Angaben durch einen Informanten vor Ort an Dutzende dieser Personalbögen der IS-Verwaltung gelangt sind. Auch das Bundeskriminalamt (BKA) kennt derartige Dokumente – und geht von deren Echtheit aus. Nach unseren Informationen sind darunter nicht viele Namen, „nur etwa 50“, heißt es in Ermittlerkreisen. Trotzdem sind die Papiere wertvoll. Sie geben einen besseren Einblick in die innere Struktur des IS, dessen Militär, zu dem Experten zwischen 20.000 und 25.000 Kämpfer zählen. Und die Dokumente bringen die deutschen Strafverfolgungsbehörden im Kampf gegen den Terror weiter.

Der Aufbau eines Staates und dessen Inszenierung ist wichtiges Ziel des IS. Damit unterscheidet er sich von Terrorgruppen wie der RAF, dem NSU oder auch Al-Kaida. Der IS hat Ministerien, eigene Gerichte etwa für Erbschaftsstreitigkeiten oder Verstöße gegen die Scharia. Angestellte treiben Steuern ein und stellen syrische Pässe aus. Zu Propagandazwecken hatte der IS sogar eine eigene Währung erfunden – den „Gold Dinar“.

Dokumente sind als „sirri“ eingestuft – als geheim

Vor allem registriert und befragt die Terrororganisation jeden Neuankömmling, der sich dem IS anschließen will. Jeder muss 23 Fragen beantworten: Name, Kampfname, Beruf, Bildung, Fähigkeiten und „Niveau der Gehorsamkeit“. Auf jedem Bogen steht: „sirri“, Arabisch für geheim. Der IS betreibt den Aufwand auch, um sich selbst vor Spionage zu schützen – ein Mittel, das die Organisation etwa bei der Eroberung neuer Gebiete selbst einsetzt.

Interessant ist deshalb Frage 13, in denen der Bürge des neuen Kämpfers registriert wird. „Man kann nicht Mitglied im IS werden, ohne einen Kontakt und einen Fürsprecher zu haben“, sagt der renommierte Terrorismusforscher Peter Neumann vom Londoner King’s College im Gespräch mit unserer Redaktion. Doch die Personallisten würden zeigen, wie groß die Paranoia des IS vor westlichen Diensten ist.

Schwarzmarkt für IS-Dokumente an der türkischen Grenze

Die Neuankömmlinge kommen zunächst in Sammelstellen, ihnen werden die Handys abgenommen. Nach einer ausführlichen Befragung werden die Antworten überprüft – zum Beispiel durch Rückfragen bei Bürgen. Das Verfahren ist „Fluch und Segen zugleich“, so ein deutscher Geheimdienstler im Gespräch mit unserer Redaktion. Denn es kommt immer wieder vor, dass abtrünnige Kämpfer die Unterlagen anbieten, sei es für Geld, sei es im Tausch gegen eine Legende, ein neues Leben, weil sie aussteigen wollen aus der Terrorgruppe und sich deswegen bei Geheimdiensten melden. Je mehr Informationen sie anbieten, desto besser ihre Verhandlungsposition. Offenbar ist an der syrisch-türkischen Grenze mittlerweile ein ganzer Schwarzmarkt für IS-Dokumente entstanden. Laut „Süddeutsche Zeitung“ ist die Korruption groß, auch Journalisten werden offizielle IS-Unterlagen zum Kauf angeboten. Nicht immer ist deren Echtheit gesichert.

Von dem Geschäft profitieren viele. Auch der Bundesnachrichtendienst (BND) erfährt mehr über das Innenleben des IS. Es ist schwer, Agenten in dieser Szene zu unterhalten oder V-Leute zu gewinnen. Eine wichtige Quelle ist das Abhören der Kommunikation – von Handy, Telefon, Mails und von sozialen Netzwerken – sowie die strategische Aufklärung durch Satelliten. Aber seit jeher sind die Berichte und Unterlagen von Abtrünnigen von großem Wert.

Personaldokumente helfen deutscher Justiz

Wenn der BND an Dokumente gelangt, teilt der Nachrichtendienst einen Teil der gewonnenen Informationen im gemeinsamen Antiterrorzentrum in Berlin-Treptow mit dem BKA und dem Verfassungsschutz. Manchmal sind die Kämpfer dem Verfassungsschutz schon bekannt, aber aufgrund der IS-Unterlagen erfährt man mehr über sie; mehr als sie in Deutschland bereit gewesen wären, preiszugeben. Bisher erhöhen die Behörden die Zahl von etwa 800 mutmaßlichen deutschen Dschihadisten aufgrund der bekannt gewordenen Dokumente nicht.

Weitere Nutznießer sind das BKA und die Justiz, vor allem bei Verfahren gegen Rückkehrer. Etwa 260 Dschihadisten sollen wieder in Deutschland sein, etliche Verfahren laufen. Erst nahmen Polizisten einen 25 Jahre alten mutmaßlichen Kämpfer in Köln fest.

Oft wissen die Beamten, dass die Islamisten in Syrien und Irak waren, man kennt meist ihre Gesinnung und vermutet, dass sie für den IS kämpften. Aber nicht jede Information ist „gerichtsfest“ und taugt als Beweis, um etwa zu belegen, dass sie für den IS gemordet haben. Die nun entdeckten geheimen Unterlagen tragen dazu bei, Ermittlungen zu eröffnen, auszuweiten oder aber Anklagen vor Gericht besser zu vertreten. Wenn der Generalbundesanwalt vor Gericht die geheimen Kämpferkarteien des IS vorlegen kann und ihre Echtheit nachweisbar ist, steigt die Beweislast. Vor allem dann, wenn ein Islamist auf seinem Personalbogen des IS die Frage 16 beantwortet – und dort „Kämpfer“ oder „Attentäter“ einträgt.