Berlin. Mit einem juristischen Gutachten will Horst Seehofer Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik zwingen.

Als Tiger war er gestartet, als Bettvorleger will Horst Seehofer (CSU) nicht enden. Am Dienstag hat Bayerns Ministerpräsident ein Gutachten vorgestellt, das dem Freistaat im Streit um die Flüchtlingspolitik gute Chancen bei einer Verfassungsklage gegen die Regierung von Angela Merkel (CDU) einräumt. Die Drohung stand seit Oktober im Raum. Die Expertise verleiht ihr ein juristisches Fundament und Tiefe.

Beim Verfassungsgericht sieht man einer Klage mit Spannung entgegen, zumal der Gutachter ein alter Bekannter ist: Udo di Fabio, 61 Jahre alt, in Duisburg geboren, 2011 nach zwölf Jahren als Richter in Karlsruhe ausgeschieden, nun wieder im Ruhrgebiet, ein hoch geachteter, erfahrener Jurist.

Merkel muss noch Überzeugungsarbeit leisten

Politisch delikat wäre eine Klage allemal. CDU und CSU sind Schwesterparteien. Drei Minister mit CSU-Parteibuch sitzen an Merkels Kabinettstisch. Ob eine Klage für sie der Casus Belli wäre, der Kriegsfall, hatte Merkel stets offengelassen. Nächste Woche reist sie nach Wildbad Kreuth. Zum zweiten Mal binnen Wochen besucht sie eine CSU-Klausur, diesmal nicht die der Berliner Landesgruppe, die ihr vertraut ist, sondern die der Landtagsfraktion, die mit ihr fremdelt. Merkel weiß, dass sie noch viel Überzeugungsarbeit leisten und um Zeit und Geduld bitten muss.

Sie muss den Bayern die Klage ausreden. Es auf den Gang nach Karlsruhe ankommen zu lassen, ist keine Option. Merkel könnte kaum SPD-Generalsekretärin Katarina Barley widersprechen. Eine Klage wäre eine „neue Eskalationsstufe im Verhältnis zwischen CDU und CSU“ und ein „Affront gegen die Politik der Bundeskanzlerin“, wie Barley unserer Redaktion sagte. Der Chef der Staatskanzlei, Marcel Huber (CSU), bezeichnete eine Klage als „Option“. Zunächst wolle die Staatsregierung aber einen Brief an die Bundesregierung schreiben.

Seehofer betreibt nicht den Bruch der Koalition. Aber es stellt sich die Frage, ob er alle CSU-Minister aus dem Kabinett in Berlin abziehen oder ob Merkel ihm zuvorkommen würde. Mit einer Klage wäre ihre Regierung angezählt.

Bund darf Länder nicht überfordern

Gewollt wäre das nicht. Das Ziel ist, den Zuzug der Flüchtlinge zu begrenzen, weil ihre hohe Zahl die Länder überfordert. Di Fabio argumentiert, der Bund sei verpflichtet, seinen Kompetenzen in einer Weise gerecht zu werden, die auch die Interessen der Länder berücksichtige. In besonderem Maße gelte dies beim Schutz der Grenzen vor unkontrollierter Einreise. Kurzum: Merkel darf die Länder nicht überfordern. Bayern will, dass die Grenzen kontrolliert werden.

Dazu ist der Bund laut di Fabio verpflichtet, „wenn das gemeinsame europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist“. Das Gutachten zeigt zwei Wege auf. Entweder setzt der Bund bestimmte Flüchtlingskontingente fest, quasi eine jährliche Obergrenze – Seehofers Rede –, oder er geht zur regulären Asylpraxis zurück und weist alle Personen ab, die über einen sicheren Drittstaat – etwa Österreich – einreisen. So sieht es das Dubliner Verfahren vor, eine eigentlich bindende EU-Regelung, an die sich so gut wie kein Staat hält, seit sich die Flüchtlingskrise zugespitzt hat. Im Sommer hatte Berlin das Dubliner Verfahren mittels einer Ausnahmeregelung ausgesetzt, die just am Dienstag abgelaufen ist. Mit dem 12. Januar können Flüchtlinge, die zum Beispiel über Griechenland oder Italien kommen, Asyl auch nur dort beantragen. Das bestätigte die Bundesregierung auf eine Frage der Grünen. Die Bundespolizei wäre damit ermächtigt, bestimmte Flüchtlinge nach Österreich zurückzuschicken.

Gutachten wird nun geprüft

Sollte dies die neue Praxis werden, wäre sie im Sinne der CSU. Der Freistaat hatte Innenminister Thomas de Maizière (CDU) sogar angeboten, die Grenzsicherung zu übernehmen; sei es zusätzlich, sei es anstelle der Bundespolizei. De Maizière lehnte allerdings ab.

Mit dem Gang nach Karlsruhe hatte Seehofer erstmals Anfang Oktober gedroht. Als er dafür belächelt wurde, bestellte er das Gutachten. Di Fabio lieferte im Dezember. Zwischen Weihnachten und Neujahr vertiefte sich Seehofer, selbst kein Jurist (er verließ die Schule nach der mittleren Reife und schlug eine Beamtenlaufbahn ein), in die Lektüre. Zur Klausur der Berliner CSU-Landesgruppe in Kreuth steuerte er letzte Woche Kostproben seines Herrschaftswissens bei. Den Abgeordneten und einigen Journalisten las er aus dem Gutachten vor, das am Dienstag im Kabinett beraten wurde. Jetzt soll es geprüft und danach entschieden werden, wie man weiter vorgehen will – was nicht zuletzt vom Verlauf der Flüchtlingskrise abhängt.

Seehofer kämpft für eine Obergrenze von jährlich 200.000. Noch ist unklar, wie sich die Zahlen entwickeln; sie variieren von Tag zu Tag. Zuletzt ging man von durchschnittlich 3000 Menschen aus, die allein die bayrische Grenze überqueren. Dann wäre Seehofers Obergrenze nach etwa 70 Tagen erreicht. Anfang März könnte es so weit sein. Nach den drei Wahlen am 13. März muss der CSU-Chef auch keine Rücksicht auf Wahlkämpfer nehmen. Bayern würde eine Klage beschließen und einen Prozessbevollmächtigten benennen.

Urteil würde lange auf sich warten lassen

Bis der Schriftsatz vorbereitet und eingereicht ist, würden weitere Wochen vergehen. Im April oder Mai könnte es so weit sein. Eine Frage der Strategie (und der Dramatik der Flüchtlingskrise) wäre es, ob man einen Antrag auf einstweilige Anordnung stellt oder den normalen Gang der Dinge abwartet, sodass sich bis zum Richterspruch weitere Monate hinziehen würden, mindestens bis Spätherbst. Wobei Bayern die Klage zurückziehen kann, wenn Merkel – wie politisch gewünscht – reagiert.

Dass die Kanzlerin juristisch zum Kurswechsel gezwungen werden könnte, bezweifelt Renate Künast. Die Vorsitzende des Rechtsausschusses kann sich nicht vorstellen, dass das Gericht „angesichts humanitärer Katastrophen und internationalem Terrorismus einer Bundesregierung verbietet, menschenrechtlich zu handeln“, wie sie dieser Redaktion sagte. Die Grünen-Politikerin hält es auch für unwahrscheinlich, dass die Karlsruher Richter Merkels Handlungsfähigkeit in der EU-Flüchtlingspolitik beschneiden würden.