Berlin . Während immer mehr Flüchtlinge kommen, beschließt die Regierung ein umfassendes Programm zur Bewältigung der Krise.

Die Flüchtlingswelle aus Ungarn reißt nicht ab: Nachdem am Wochenende fast 20.000 Menschen nach Deutschland gekommen waren, saßen am Montag erneut etwa 11.000 Flüchtlinge in Sonderzügen von Ungarn nach München. Bayern soll jetzt entlastet werden, in Leipzig wird ein weiteres Drehkreuz für die Versorgung der einreisenden Flüchtlinge eingerichtet.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist bewegt von der dramatischen Entwicklung, spricht von einem „atemberaubenden Wochenende“. Sie freue sich, dass Deutschland ein Land geworden sei, „mit dem viele Menschen außerhalb Deutschlands Hoffnungen verbinden“. Sie und die Koalition ziehen daraus jetzt erstmals umfassende Konsequenzen. In der Nacht zu Montag beschließt ein Koalitionsgipfel ein umfassendes Maßnahmenpaket des Bundes zur Bewältigung der Flüchtlingskrise. Als Merkel und Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) die Beschlüsse vorstellen, demonstrieren sie größtmöglichen Zusammenhalt in schwierigen Zeiten.

Sechs Stunden hat sich die Koalitionsspitze in der Nacht beraten

Sechs Stunden hatten die Spitzen der Koalition in der Nacht zum Montag im Kanzleramt zusammengesessen. Am Ende kam ein siebenseitiges Papier heraus. Es umfasst viele, auch kleinteilige Punkte, der wichtigste betrifft das Geld: Der Bund will im kommenden Jahr sechs Milliarden Euro zusätzlich bereitstellen, um die Folgen des Flüchtlingsstroms abzufedern.

Drei Milliarden Euro sollen Länder und Kommunen erhalten, vor allem für die Unterbringung der Flüchtlinge. Wie das Geld im einzelnen verteilt wird, soll ein Flüchtlingsgipfel von Bund und Ländern am 24. September klären. Die Kommunen sprechen von einem wichtigen Schritt. Doch der Städte- und Gemeindebund mahnt auch, das Geld müsse bei den Kommunen wirklich ankommen, kurzfristig seien weitere Maßnahmen notwendig, wie Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg dem Abendblatt sagt.

Weitere drei Milliarden Euro stellt der Bund für eigene Aufgaben im Haushalt 2016 ein – vor allem für Integrationsprogramme, zusätzliche Hartz-IV-Lasten, aber auch für mehr Stellen bei der Bundespolizei. Einen Millionenbetrag erhält das Auswärtige Amt, um in Krisenregionen wie Nahost die Lage von Flüchtlingen zu verbessern.

Landeschefs vermuten, dass sechs Milliarden Euro nicht ausreichen

Aber reichen die sechs Milliarden Euro? Politiker vor allem aus den Ländern zweifeln daran: NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) etwa fordert eine weitere Aufstockung der Hilfen für Länder und Kommunen: „Die Zahlen entsprechen seit dem Wochenende nicht mehr der Realität. Die Kommunen sind am Anschlag.“ Auch die immense finanzielle Belastung durch allein reisende minderjährige Flüchtlinge sei nicht ausreichend berücksichtigt. Ähnlich äußern sich die Ministerpräsidenten von Brandenburg und Thüringen, Dietmar Woidke (SPD) und Bodo Ramelow (Linke). Woidke fordert eine Verdoppelung der in Aussicht gestellten Hilfen. Ramelow klagt, die Gelder deckten in Thüringen nur einen Bruchteil des Bedarfs ab.

Kanzlerin Merkel räumt ein, Gesamtkosten von zehn Milliarden Euro im nächsten Jahr für die Flüchtlinge seien „von der Größenordnung her nicht unplausibel“. Das klingt viel, aber Merkel meint damit nicht nur die Ausgaben für den Bund, sondern für alle drei staatlichen Ebenen Bund, Länder und Gemeinden zusammen. Nach Informationen des Abendblatts wird in der Koalition allerdings schon geprüft, ob beim bevorstehenden Flüchtlingsgipfel noch Verhandlungsspielraum für einen Nachschlag zugunsten der Länder besteht.

Überhaupt verhandeln Bund und Länder gerade über eine Neuordnung ihrer Finanzbeziehungen. Die Gespräche sind schwierig, die Fronten verlaufen zwischen Nord und Süd, Ost und West. Am Mittwoch wollen die Ministerpräsidenten einen neuen Versuch starten, den Knoten zu zerschlagen. Die Flüchtlingsausgaben bieten für Länder und Kommunen einen willkommenen Anlass, noch einige Milliarden mehr herauszuschlagen. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hält sich deshalb auch noch sehr bedeckt und nennt keine genauen Summen. Klar ist nur, dass der Bundeshaushalt für 2016, den Schäuble heute in den Bundestag einbringt, schon Makulatur ist. Die vorgesehenen Ausgaben von 312 Milliarden Euro werden sich wegen der Flüchtlinge deutlich erhöhen.

So will Deutschland den Asylbewerberzustrom meistern

Das Krisenprogramm der Koalition umfasst neben dem Sechs-Milliarden-Paket über 30 Einzelmaßnahmen des Bundes – im Inland und auf EU-Ebene. Die Kernpunkte:

Das Asylrecht wird verschärft. Kosovo, Albanien und Montenegro werden zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt, Asylsuchende aus diesen Ländern können dann schneller abgewiesen werden. In der Erstaufnahme werden so weit wie möglich nur noch Sachleistungen statt Bargeld ausgegeben.

Die Flüchtlingsplätze in der Erstaufnahme werden auf 150.000 verdreifacht und winterfest gemacht. Der Bund will Ländern und Kommunen dabei helfen und auch eigene Liegenschaften bereitstellen.

Arbeitschancen erhalten die Bürger der Westbalkanstaaten. Mit Arbeits- oder Ausbildungsvertrag dürfen sie als „legale Migranten“ nach Deutschland kommen. Dass soll eine Alternative zum Asylverfahren sein.

Bauvorschriften für Flüchtlingsunterkünfte werden per Gesetz gelockert.

Die Bundespolizei erhält zusätzlich 3000 Stellen.

Das Leiharbeitsverbot für Asylbewerber und Geduldete entfällt nach drei Monaten. Die Jobcenter erhalten mehr Personal. Integrations- und Sprachkurse für Asylbewerber und Geduldete werden besser finanziert.

Fluchtursachen will der Bund gezielter bekämpfen. Allein das Auswärtige Amt erhält 400 Millionen Euro, um die Lage in den Flüchtlingslagern von Krisenregionen wie Nahost zu bessern.

Die EU-Staaten sollen zu einer gerechten Flüchtlingsverteilung und einem einheitlichen Asylrecht gedrängt werden. Ein Ziel: Wer als Asylbewerber einem anderen Land zugeteilt ist, bekäme in Deutschland keine Unterstützung mehr.ck

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Die Grünen kritisieren die Beschlüsse des Koalitionsgipfels als unzureichend. Sie seien „nur eine halbe Antwort auf die Frage, wie wir dauerhaft mit einer hohen Zahl von Flüchtlingen umgehen werden“, sagt die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt dem Abendblatt. „Das Chaos der deutschen Flüchtlingspolitik wird nicht durch Taschengeldkürzungen und längeren Verbleib in der Erstaufnahme gelöst.“ Die Entlastung von Ländern und Kommunen findet Göring-Eckardt zwar gut. Allerdings fehle eine dauerhafte Beteiligung des Bundes an der Flüchtlingshilfe. „Der Bund soll Farbe bekennen, mit wie vielen Euro er sich pro Flüchtling an den Kosten für Unterbringung und Versorgung beteiligen will“, fordert sie. In der SPD gibt es über die Finanzfragen hinaus Kritik: Die Sprecherin der SPD-Linken, Hilde Mattheis, meint, die Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten und die Umstellung von Taschengeld auf Sachleistungen für Asylbewerber würden keinen Menschen abhalten, Zuflucht in Deutschland zu suchen. „Die SPD ist sich einig – weitere Einschränkungen des Asylrechts darf es nicht geben“, sagt Mattheis dem Abendblatt. Juso-Chefin Johanna Uekermann fordert die SPD-Fraktion bereits auf, diesen Teil des Kompromisses abzulehnen.