SPD-Chef Gabriel über die Gesundheitsreform, die Zusammenarbeit mit der Linkspartei und über Hamburg nach Ole von Beust.

Berlin. Als die Abendblatt-Redakteure das Büro von Sigmar Gabriel betraten, kam ihnen SPD-Legende Egon Bahr entgegen. Der Architekt der Ostpolitik von Willy Brandt hatte sich mit dem Parteivorsitzenden offenbar über Strategiefragen unterhalten. Zurück blieb ein Schaubild, das den Weg der Sozialdemokraten nach dem Machtwechsel in Nordrhein-Westfalen skizziert.

Hamburger Abendblatt:

Herr Gabriel, werden Sie sich in fünf Jahren noch an diese Woche erinnern?

Sigmar Gabriel:

Ja, sicher.

An was hauptsächlich?

Ich fahre nach Ostpreußen auf der Suche nach Spuren meiner Familie, zusammen mit meiner Schwester und meinen Cousins und Cousinen. Das wird vermutlich die lebhafteste Erinnerung sein. Und ich werde mich natürlich daran erinnern, dass die SPD zum ersten Mal seit 2001 wieder einen CDU-Ministerpräsidenten abgelöst hat - und das auch noch mit einer Klassefrau, mit Hannelore Kraft.

War das die Geburtsstunde von Rot-Rot-Grün?

Nein. Das ist ja gerade die Ablehnung der Zusammenarbeit mit der Partei Die Linke durch SPD und Grüne gewesen, und zwar eine inhaltlich begründete. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft wollte in Nordrhein-Westfalen keine Koalition mit der Linken, sie wollte auch kein Tolerierungsabkommen. Und sie ist ohne Stimmen der Linken zur Ministerpräsidentin gewählt worden.

Ohne die Linkspartei kann die rot-grüne Minderheitsregierung nicht einmal den Haushalt beschließen. Oder glauben Sie, Frau Kraft kann sich auf die Stimmen von CDU und FDP stützen?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich CDU und FDP mit der Partei Die Linke zusammentun wollen, nur um eine Regierung von SPD und Grünen zu stürzen. Das wäre ja eine ganz neue schwarz-gelb-dunkelrote Volksfront. Eine Zusammenarbeit mit der Regierung zum Wohle des Landes Nordrhein-Westfalen wird ihnen hoffentlich wichtiger sein als die Zusammenarbeit mit der Partei Die Linke zum Sturz der Regierung.

Verzichten Sie auf die Stimmen der Linkspartei?

Das haben wir ja gerade zweimal getan. Ich habe aber nichts dagegen, wenn einzelne Abgeordnete der Partei Die Linke oder auch ihre ganze Fraktion vernünftigen Vorschlägen von SPD und Grünen zustimmt. Selbst Frau Merkel hat mit Unterstützung der Linkspartei einen Bundespräsidenten durchgesetzt.

Was bedeutet das für die Zusammenarbeit von SPD und Linken im Bund?

Die SPD kann sich auf Bundesebene erst über die Frage der Zusammenarbeit mit der Partei Die Linke Gedanken machen, wenn wir wissen, mit wem wir es denn nun zu tun haben: mit einer linken Reformpartei oder mit einer populistischen Fundamentalopposition, die selbst leninistische und antidemokratische Positionen zulässt. Ich bin sicher, dass es viele und kluge Reformkräfte in der Partei Die Linke gibt, insbesondere im Osten Deutschlands. Aber solange die den Kampf um ihre Partei nicht aufnehmen, solange ihnen die Tradition der "Einheit der Partei" aus der SED-Geschichte wichtiger ist als Klarheit, so lange bleibt diese Partei ein Zwitter, mit dem sich niemand auf Bundesebene einlassen wird.

Wie lange gilt das?

Die Reformer müssen endlich mal kämpfen um ihre Partei! Ob sie sich durchsetzen, werden wir erst wissen, wenn Die Linke endlich ihr Grundsatzprogramm beschließt. Das ist allein Angelegenheit der Partei Die Linke. Wir wollen uns da gar nicht einmischen. Für alle Fragen der Zusammenarbeit auf Bundesebene gilt deshalb: Wiedervorlage Ende 2011. Für uns wird dann wichtig sein, dass Die Linke keine Formelkompromisse aufschreibt, sondern sie muss eine echte Klärung herbeiführen. Nach 20 Jahren deutscher Einheit ist das doch überfällig. Die SPD ist dafür aber nicht zuständig, und ich habe wenig Interesse daran, dass Vertreter des Reformflügels der Partei Die Linke zu mir kommen und sagen: Du musst jetzt zulassen, dass wir zusammen regieren, denn diesen Erziehungsprozess brauchen wir mit unseren Leuten. Die SPD ist nicht die Erziehungsanstalt für Die Linke.

Lafontaine hat sich vom Parteivorsitz zurückgezogen. Erleichtert das nicht die Annäherung?

Noch ist ja Oskar Lafontaine quasi der Geheimrat der Partei Die Linke. Das haben wir gerade erst bei der Bundespräsidentenwahl gesehen, als er Frau Merkel den Gefallen tat, eine Mehrheit für Christian Wulff zu ermöglichen, nur um Joachim Gauck zu verhindern. Gesine Lötzsch und Klaus Ernst müssten erst mal zeigen, dass sie tatsächlich die Parteivorsitzenden sind und das Sagen haben.

Ihr Parteifreund Henning Voscherau hat das Düsseldorfer Modell für Hamburg ins Gespräch gebracht, falls Ole von Beust als Bürgermeister zurücktritt. Hat er Sie auf seiner Seite?

Da ich die Äußerung nicht kenne, kann ich sie nicht kommentieren.

Sie haben die Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen selbst schon zur Nachahmung empfohlen - und sich den Spott von Grünen-Fraktionschefin Künast zugezogen. Ihnen sei es wohl zu heiß ...

Ich empfehle allen - auch der lieben Kollegin Renate Künast -, sich stets den genauen Wortlaut eines Interviews durchzulesen. Lesen erleichtert einfach die Textkenntnis. Das gilt auch in der Sommerhitze. Ansonsten bleibt es dabei: Natürlich versucht man doch immer, eine Mehrheitsregierung zu bilden. Niemand strebt ernsthaft eine Minderheitsregierung an. Aber dass eine rechnerische Mehrheit noch nicht zwangsläufig eine politische Gestaltungsmehrheit ist, merken wir doch gerade in der Bundesregierung. Dort gibt es seit Monaten keine vernünftige Entscheidung, die nennen sich gegenseitig "Wildsäue" und "Gurkentruppe", obwohl sie eine Mehrheit haben. Und weil Hannelore Kraft eine solche Scheinmehrheit nicht wollte, hat sie sich für die Minderheitsregierung entschieden.

Was bedeutet das für Hamburg? Sie werden sich Gedanken machen müssen, wie es in der Hansestadt weitergeht, wenn ihr der Regierungschef abhanden kommt ...

Wir machen uns in Hamburg Gedanken, wie eine bessere Politik für diese große und so wichtige Stadt gemacht werden kann. Das machen wir ganz unabhängig davon, ob Ole von Beust in dieser Wahlperiode Bürgermeister bleiben will oder nicht.

Sie sind mit Ole von Beust befreundet. Wen würden Sie sich als Nachfolger wünschen?

Es stimmt, dass Ole von Beust und ich uns seit Langem kennen und auch persönlich schätzen. Das ändert aber nichts daran, dass ich finde, dass Hamburg unter Wert und Möglichkeiten regiert wird. Und die Hamburger SPD unter dem Vorsitz von Olaf Scholz hat genug Ideen und auch Personen, die das ändern können. Wer davon am Ende als Spitzenkandidat antritt, entscheidet die Hamburger SPD selbst.

Wenn sich die Bürger in einem Volksentscheid gegen eine Schulreform wenden, die parteiübergreifend getragen wird - was lehrt einen das?

Wenn es so wäre, dann hätten die Parteien entweder den Willen der Bevölkerung falsch eingeschätzt oder die Anhänger ihres Reformvorhabens nicht ausreichend motiviert, an der Abstimmung teilzunehmen. Aber warum sind Sie so ungeduldig, warten wir doch erst einmal die Entscheidung der Bürger ab.

Was erwarten Sie von den Siegern - und was von den Verlierern?

Das, was von jedem Demokraten und jeder Demokratin verlangt wird: Die Mehrheit darf dann erwarten, dass die Politik den Mehrheitswillen umsetzt. Die Minderheit muss das akzeptieren. Gleichzeitig muss die Mehrheit aber auch akzeptieren, dass die Minderheit das Recht hat, für ihre Meinung weiter zu werben. Denn in einer Demokratie wird ja nie über objektiv richtig oder objektiv falsch entschieden, sondern erst einmal über eine formale Mehrheit und Minderheit zu einem bestimmten Zeitpunkt. Demokratische Minderheiten akzeptieren das Mehrheitsprinzip der Demokratie ja gerade deshalb, weil sie die prinzipielle Chance haben, vielleicht später einmal zur Mehrheit zu werden. Demokratie lebt vom gegenseitigen Respekt von Mehrheit und Minderheit. Das gilt auch für Volksentscheide.

Herr Gabriel, die Bundesregierung tut sich schwer - und aus Ihrer Partei kommen Forderungen nach Neuwahlen. Sind die Sozialdemokraten wenige Monate nach ihrer verheerenden Wahlniederlage schon wieder bereit, die Regierung zu übernehmen?

Die Leistungen sozialdemokratischer Minister in der Großen Koalition werden von den Bürgern allemal besser beurteilt als die Leistungen der jetzigen Bundesregierung. Unter Peer Steinbrück, Frank-Walter Steinmeier und Olaf Scholz sind die Beschlüsse gefasst worden, die Deutschland stabil durch die Wirtschaftskrise gebracht haben. Wir haben gezeigt, dass wir es besser können als Schwarz-Gelb. Aber es wird keine Neuwahlen geben. CDU, CSU und FDP werden weiter mauscheln, ihre Klientel bedienen und ansonsten auf das Wirtschaftswachstum hoffen, für das sie selbst nichts tun. Deutschland drohen verlorene Jahre.

Sie werden einen Kanzlerkandidaten brauchen. Gibt es Alternativen zu Sigmar Gabriel?

Ja, sicher. Ich habe noch nie etwas von dem Spruch gehalten: Der Parteivorsitzende hat das Zugriffsrecht. Das verengt die Sichtweise. Man muss sich für denjenigen entscheiden, der bei den Bürgerinnen und Bürgern die größten Erfolgsaussichten hat. Das muss nicht unbedingt der Parteivorsitzende sein.

Über den Bundesrat kann die SPD bereits mitregieren. Welche Vorgaben von Schwarz-Gelb werden Sie blockieren?

Mitregieren können wir nicht, da wir im Bundesrat keine Gestaltungsmehrheit haben, aber wir können zumindest das Schlimmste verhindern. Eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke als Tausch von Sicherheit gegen Geld ist mit der SPD nicht zu machen. Und wenn Schwarz-Gelb den Bundesrat umgehen will, werden wir eben Verfassungsklage erheben.

Mit welchen Erfolgsaussichten? Den Atomausstieg hat Rot-Grün auch ohne den Bundesrat organisiert ...

Der Atomausstieg entlastet die Bundesländer von einer Verwaltungsaufgabe. Aber wenn diese Verwaltungsaufgabe um zehn, 15 oder 20 Jahre verlängert wird, ist das eine Belastung und damit garantiert zustimmungspflichtig. Umweltminister Röttgen sagt das ja selbst, nur hört auf den niemand im Bundeskabinett.

Klagen Sie auch gegen die Gesundheitsreform?

Gesundheitsminister Rösler hat einen der härtesten und ungerechtesten Schnitte im deutschen Sozialsystem vollzogen. Er hat das Ende der solidarisch finanzierten gesetzlichen Krankenversicherung eingeleitet und eine Kopfpauschale ohne Sozialausgleich durchgesetzt. Die Herren Seehofer und Söder von der CSU wollten das verhindern. Sie sind als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet. Sie haben einen üblen Kuhhandel zugelassen: die Stimmen der FDP bei der Bundespräsidentenwahl für den CDU-Kandidaten gegen die Durchsetzung der Klientelpolitik der FDP im Gesundheitswesen. Ob und inwieweit der Bundesrat das stoppen kann, werden wir in den kommenden Wochen prüfen.

Für die Zusatzbeiträge, von denen sie sprechen, ist durchaus ein Sozialausgleich vorgesehen ...

Bei denen, die ganz wenig verdienen, gibt es unterschiedliche Stufen des Heranziehens zur Kopfpauschale. Aber das ist kein echter Sozialausgleich, das ist ein bürokratisches Monstrum, von dem keiner weiß, wie das funktionieren soll. Versprochen wurde von der FDP einstmals eine Einbeziehung aller bisher Privatversicherten und eine milliardenschwere Entlastung der unteren und mittleren Einkommensbezieher durch Steuerzuschüsse. Nichts davon ist übrig geblieben. Wir erleben hier gerade die größte Netto-Lüge aller Zeiten. Die Arbeitnehmer zahlen die Zeche, und die Lobbyisten im Gesundheitswesen einschließlich der FDP-Freunde in den Privatversicherungen werden nicht nur geschont, sondern sind die wirtschaftlichen Gewinner. Das ist die Fortsetzung der Hoteliersgeschenke, nur dass es diesmal richtig große Verlierer gibt: die Versicherten. Herr Rösler liefert die gesetzlich Versicherten den privaten Krankenkassen als Beute aus.

Also klagen Sie.

Das können wir beantworten, wenn klar ist, ob der Bundesrat mitbestimmungspflichtig ist und CDU/CSU und FDP das durch Tricks verhindern wollen. Aber viel wichtiger ist, dass die Gesundheitspolitik ein mobilisierungsfähiges Thema ist. Die Hausärzte mobilisieren schon. Im nächsten Jahr finden sechs Landtagswahlen statt. Die SPD wird diese Wahlen auch zu Abstimmungen darüber machen, ob die Bürgerinnen und Bürger diese unsoziale Gesundheitsreform wollen oder nicht.