Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, über Terror, Krisen und mangelnde politische Weitsicht

Berlin. Das Berliner Büro von Wolfgang Ischinger, dem Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur französischen Botschaft. Davor liegen Kränze für die Opfer der Pariser Terrorattentate. In 40 Jahren als Diplomat habe er gelernt, in Worst-Case-Szenarien zu denken, sagt der 68-Jährige. Deshalb fürchtet er: Der nächste Anschlag ist nur eine Frage der Zeit. Und der Terror nur eine der Herausforderungen in einer von Krisen geplagten Welt, für die keine Lösung in Sicht ist.

Hamburger Abendblatt:

Herr Ischinger, in der Trauer sind die Europäer vereint – aber sind sie auch der Herausforderung durch Terroristen gewachsen, die den Krieg mit Maschinengewehren in unsere Städte tragen?

Wolfgang Ischinger:

Ich kann es nur hoffen. Aus meiner Sicht haben wir es mit einer neuen Qualität terroristischer Mörderattacken in Europa zu tun, die wir bislang eher aus Nahost, Afghanistan oder Pakistan kannten. Die Bürger dagegen zu schützen ist für die europäischen Sicherheitsbehörden eine enorme Herausforderung, um nicht zu sagen: Das ist kaum möglich. Wir werden uns damit Anfang Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz auseinandersetzen müssen.

Rechnen Sie mit weiteren Anschlägen, womöglich auch in Deutschland?

Ischinger:

Diese Attentate hätten auch in Rom, Brüssel oder Berlin stattfinden können. Angesichts der beachtlichen Zahl junger Menschen, die aus Deutschland nach Syrien oder in den Irak reisen, um sich dort terroristisch ausbilden zu lassen, wäre es ein Wunder oder jedenfalls viel Glück, wenn wir von Hass und Vernichtungswillen dieser Dschihad-Touristen verschont blieben. Der Anti-Terror-Einsatz gegen Dschihadisten in Deutschland und die Festnahmen im belgischen Verviers sind ja einBeleg, dass Paris auch anderswo in Europa passieren könnte. Der nächste Anschlag ist weniger eine Frage des Ob, als vielmehr des Wie und Wann.

Die Franzosen schützen kritische Orte mit 10.000 Soldaten. Steht auch uns eine neue Debatte über Einsätze der Bundeswehr im Inneren bevor?

Ischinger:

Wir leben derzeit noch unter der Käseglocke des bisher Unversehrten. Ich fürchte, wenn wir in Deutschland wirklich eine terroristische Gewalttat erleben müssten, wird es nicht nur um die bekannten Themen wie Vorratsdatenspeicherung und andere Gesetzesverschärfungen gehen. Ich fürchte, das Klima in Deutschland könnte sich dann sehr negativ verschärfen. Wahr ist: Ein Patentrezept für eine perfekte Sicherheit gibt es nicht, wir werden mit Risiken leben müssen. Eine glückliche Perspektive ist das nicht, aber sie entspricht der globalen Entwicklung: Die Weltordnung ist gefährdet, die USA werden sich in Zukunft eher selektiver engagieren, und es ist kein anderer Polizist in Sicht, der sich kümmert.

In Syrien hat sich über Jahre niemand um den Bürgerkrieg kümmern wollen. Ist der Terrortourismus, ist der „Islamische Staat“ ein Produkt des zögerlichen Eingreifens des Westens?

Ischinger:

Jedenfalls ist die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bis zur Europäischen Union und ihrer Partner, den Syrienkonflikt in den Griff zu bekommen, ein Element, das diese Entwicklung eher gefördert als gebremst hat. Nun haben wir Millionen von Flüchtlingen und einen Krieg mit konfessionellen Elementen, der mich in seiner Komplexität an den Dreißigjährigen Krieg erinnert. Das Problem aber geht über Syrien hinaus: Wir erleben ein Versagen der „global governance“ auf breiter Front. Ob in der Ukraine, ob in Afrika, es gibt eine enorme Nachfrage nach einer Gestaltung der Weltordnung – und es gibt eine nicht vorhandene Fähigkeit, diese Nachfrage zu befriedigen. Wir bräuchten eigentlich einen Uno-Sicherheitsrat, der jede Woche dabei hilft, einen Konflikt zu lösen. Tatsächlich ist er total blockiert.

Hinzu kommt die nachlassende Lust der USA, sich als Weltpolizist zu engagieren.

Ischinger:

Präsident Obama hat – und ich kann das verstehen – beschlossen, einer Mehrheitsneigung in der amerikanischen Bevölkerung zu folgen, die kriegsmüde ist. Von den Republikanern wird er dafür massiv kritisiert. Es stellt sich die Frage: Sind die Amerikaner es leid, sich in Kriege verwickeln zu lassen? Oder sich um die Welt zu kümmern? Die neuen Mächte von China über Brasilien bis Indien wollen nicht im Interesse der Allgemeinheit führen, sie vertreten noch vor allem ihre Partikularinteressen. Wenn die USA dauerhaft nicht mehr wollen, dann haben wir ein Problem. Denn den Europäern fehlen die politischen und militärischen Handlungsmöglichkeiten, um all den Regionen der Welt zu helfen, die nach entschlossenem Eingreifen verlangen.

Es war die zentrale Botschaft der Münchner Sicherheitskonferenz vor einem Jahr, als Bundespräsident Joachim Gauck sagte: Deutschland muss sich außenpolitisch „früher, entschiedener und substanzieller“ einbringen. Ist die Regierung diesem Anspruch gerecht geworden?

Ischinger:

Ohne die Gauck-Rede wären die Waffenlieferungen an die Peschmerga nicht möglich gewesen. Der Bundespräsident hat, gemeinsam mit Außenminister Steinmeier und Verteidigungsministerin von der Leyen, eine notwendige Debatte über Verantwortung und Interessen angestoßen und damit einen Bewusstseinswandel in Gang gesetzt. Im Rückblick war diese Rede für die deutsche und europäische Sicherheitspolitik ein Glücksfall. Freilich ist auch wahr, dass zu dem damaligen Zeitpunkt niemand ahnte, dass wir am Vorabend von globalen Großkrisen stehen und die Gauck-Rede die Ouvertüre eines Dramas sein sollte, dessen Hauptakt wir 2015 erleben werden.