Der Hamburger Verfassungsschützer Behnam Said sagt, die Terrormiliz habe hohe Anziehungskraft, weil sie eine moderne Bewegung sei

Hamburg. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) hat ein Kalifat ausgerufen, in dem die „Ungläubigen“ unterdrückt werden. Die Brutalität in Syrien und Irak prägt das Bild der Gruppe in der Welt. Doch mit dem Terror hat der IS ein System aufgebaut, das durch raffinierte Propaganda, Provokation und der Absage an westliche Werte auch für manche Jugendliche in Deutschland attraktiv ist. Behnam Said ist Islamwissenschaftler und arbeitet beim Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz. Vor Kurzem erschien sein Buch „Islamischer Staat – IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden“ (C.H.Beck), in dem er die Hintergründe für den Siegeszug des IS erklärt. Said sagt: Hinter dem Terror steckt auch eine moderne Bewegung.

Hamburger Abendblatt:

Was hat der „Islamische Staat“ mit dem Islam zu tun?

Behnam Said:

Die einfache Losung, dass der IS rein gar nichts mit dem Islam zu tun hat, greift zu kurz. Die Terrorgruppe instrumentalisiert islamische Quellen, sie legt den Islam nach ihrem Gusto aus. Die Kämpfer des IS spiegeln allerdings nur einen sehr geringen Teil der islamischen Realität wider. Einflussreiche Gelehrte des Islam verurteilen dagegen die Gruppe als unislamisch. Gerade die Brutalität des IS hat Muslime kritisch aufhorchen lassen und führt auch und gerade in der arabischen Welt zu einer Debatte über das Religionsverständnis im 21.Jahrhundert. Wir können klar feststellen: Die große Mehrzahl der Muslime lehnt den IS ganz einfach ab, weil er eine grausame Terrorgruppe ist und den Islam ideologisch missbraucht. Sogar Dschihadisten, die al-Qaida nahestehen, haben den IS schon für dessen Brutalität und die Enthauptung von Geiseln kritisiert.

Nusra-Front, Boko Haram, al-Qaida und jetzt auch noch IS. Gibt es eine weltweite dschihadistische Bewegung?

Said:

Es gibt diese Bewegung seit mehreren Jahrzehnten. Ziele und Motive der unterschiedlichen Dschihad-Gruppen sind weltweit nahezu identisch: Kampf für ein Kalifat, Kampf gegen Regierungen in den muslimischen Gesellschaften sowie gegen den Westen, und das mit Gewalt. Dennoch nehmen Abspaltungen und Feindschaften innerhalb der militanten Islamistenszene zu, wozu der Alleinherrschaftsanspruch des IS einen großen Teil beigetragen hat. Die Macht des IS entzieht anderen radikalen Gruppen Kämpfer, Einfluss und Ressourcen.

Wie sehr ist der „Islamische Staat“ tatsächlich ein Staat?

Said:

Nehmen wir an, dass – nach der Minimaldefinition des Staatsrechtlers Georg Jellinek – zum Staat ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt gehören, dann ließe sich vielleicht theoretisch von einer Art Staat sprechen. Dem „Islamischen Staat“ fehlt zwar ein klar umrissenes Territorium, doch gibt es ein Kerngebiet in Syrien und Irak. Ein Staatsvolk hat der IS: jeden, der unter seiner Herrschaft lebt. Und der IS besitzt in diesen Gebieten die Staatsgewalt. Dennoch fehlt dem selbst ernannten „Islamischen Staat“ eine Verfassung und die internationale Anerkennung als Staat, also Merkmale, deren Vorhandensein moderne Staatsdefinitionen fordern. Anders als die Taliban strebt der IS auch gar nicht nach internationaler Anerkennung. Es geht ihm nur darum, sein Herrschaftsgebiet auszuweiten. Kurz: Der IS ist eine Terrormiliz, die versucht, staatliche Strukturen auf dem von ihr gehaltenen Territorium zu implementieren. Der Staatsanspruch wird der Miliz dabei übrigens insbesondere auch durch andere dschihadistische Gruppen abgesprochen, die immer wieder darauf hinweisen, dass der IS lediglich eine dschihadistische Gruppe unter vielen, noch dazu eine niederträchtige sei.

Bau von Kindergärten und Krankenhäusern, Hilfe für Familien von Selbstmordattentätern. Der IS hat ein System der Sozialfürsorge aufgebaut ...

Said:

... das überhaupt nicht mit dem deutschen Sozialsystem zu vergleichen ist. Fürsorge für eigene Kämpfer haben auch andere radikale Gruppen. Der IS geht weiter: Bau von Straßen und Stromleitungen, der IS betreibt Waisenhäuser und Schulen und kontrolliert die Gaslieferungen. Das ist ein quasi-staatliches Infrastruktursystem. Aber eines, an dem nur teilhaben darf, wer sich der Ideologie des IS anschließt oder sich dessen Herrschaft unterwirft.

Wer sind die vor allem jungen Männer aus Deutschland, die nach Syrien reisen, um für den IS zu kämpfen?

Said:

Motive und Herkunft der deutschen Dschihadisten können ganz unterschiedlich sein. Und das ist schon das erste Merkmal: Dschihadismus ist eine moderne Bewegung, zu der man sich als Individuum bekennt. Er schafft eine Identität abseits der Zugehörigkeit zu einer Nation oder einer Ethnie, den radikalen Glauben. Aus Sicht des IS ist es nicht wichtig, ob jemand Asiate, Europäer oder Afrikaner ist. Was zählt, ist der bedingungslose Kampf gegen den Westen im Namen und unter Instrumentalisierung des Islam. Es ist unter anderem eine Mischung aus Subjektivität und Kollektivität, die den Dschihadismus zu einer attraktiven Bewegung für nicht wenige Europäer macht.

Warum träumen manche Jugendliche im demokratischen Deutschland von einem Leben in einem rückständigen Kalifat?

Said:

Der Salafismus als radikale Form des Islamismus ist vor allem eine Jugendbewegung. Wie beispielsweise Neonazis und andere Rechtsextremisten lehnen Salafisten ebenso das sogenannte herrschende System ab. Die Provokation gegen den Mainstream ist dabei Teil der Bewegung. Die Dschihad-Aspiranten empfinden die deutsche Gesellschaft oft als sinnentleert, hedonistisch und materialistisch. Zudem lehnen sie die Außenpolitik des Westens in der muslimischen Welt ab. Im IS meinen sie eine Art Gegenentwurf zur hiesigen Gesellschaft gefunden zu haben.

Dabei haben viele junge Salafisten diesen Konsum in vollen Zügen ausgelebt: Disco, Markenklamotten, Playstation.

Said:

Junge Menschen radikalisieren sich häufig innerhalb weniger Jahre oder auch weniger Monate. Dennoch wird niemand von heute auf morgen vom netten Nachbarjungen zum Kämpfer auf dem vermeintlichen Wege Gottes. Oftmals kann ein Bruch in der Familie der Auslöser für eine Radikalisierung sein: Trennung der Eltern, Scheitern in der Schule, Verlust der Freundin. Wer dauerhaft keinen Anschluss in der Gesellschaft findet, sucht nach Auswegen. Das Hinwenden zu einer Gruppe, in der nur der Glaube zählt, kann einen Jugendlichen aus der Verantwortung nehmen, hier in Deutschland Erfolg haben zu müssen, beispielsweise in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt.

Und die Jugendlichen ziehen dann lieber in den Dschihad?

Said:

In den meisten Fällen geraten Jugendliche erst an salafistische Gruppen in ihrem Umfeld. Diese Leute bieten eine starke Identität und eine vereinfachende Weltanschauung mit einfachen Antworten, die offensichtlich gerade im Zuge der immer komplexer wahrgenommenen Lebensumstände auf einige Menschen attraktiv wirkt. Bei Salafisten erfahren Jugendliche nicht Anerkennung aufgrund von Statussymbolen wie Markenkleidung oder teuren Handys, sondern aufgrund ihrer nach außen gelebten Religiosität. Und diese Faktoren können, neben einigen weiteren, dazu führen, dass ein Jugendlicher in den Krieg ziehen möchte.

Die Zahl dieser ausreisenden Islamisten stieg 2014 deutlich an. Wird das 2015 so weitergehen?

Said:

In den letzten Monaten musste der IS sowohl im Irak als auch in Syrien militärische Verluste hinnehmen. Es war jedoch der Erfolg auf dem Schlachtfeld, der den IS für junge Menschen aus Europa attraktiv gemacht hat. Wenn dieser Erfolg langfristig nachlassen sollte, könnte damit auch die Zahl der Dschihadisten aus dem Westen abnehmen. Zudem haben die europäischen Staaten im vergangenen Jahr noch einmal ihre Anstrengungen intensiviert, Ausreisen zu verhindern. Doch wichtig ist auch: Der Terrorismus ist nicht vorbei, sobald der IS geschlagen ist. Die Wurzeln der Gewalt, insbesondere die Unzufriedenheit mit den Regierungen in der arabischen Welt und der Lebenslage vieler Bürger, bleiben bestehen. Ebenso wirkt der Giftpilz der dschihadistischen Ideologie weiter – der Kampf dagegen wird eine langfristige Front gegen den Dschihadismus sein.